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Channel: RAINER MARIA RILKE . 1875-1926
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Ein Frühlingswind

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Mit diesem Wind kommt Schicksal; laß, o laß
es kommen, all das Drängende und Blinde,
vor dem wir glühen werden -: alles das.
(Sei still und rühr dich nicht, daß es uns finde.)
O unser Schicksal kommt mit diesem Winde.

Von irgendwo bringt dieser neue Wind,
schwankend vom Tragen namenloser Dinge,
über das Meer her was wir sind.

.... Wären wirs doch. So wären wir zuhaus.
(Die Himmel stiegen in uns auf und nieder.)
Aber mit diesem Wind geht immer wieder
das Schicksal riesig über uns hinaus

Rainer Maria Rilke

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Geo ::.

Nachthimmel und Sternenfall ....

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Der Himmel, groß, voll herrlicher Verhaltung,
in Vorrat Raum, ein Übermaß von Welt.
Und wir, zu ferne für die Ausgestaltung,
zu nahe für die Abkehr hingestellt.
Da fällt ein Stern! Und unser Wunsch an ihn,
bestürzten Aufblicks, dringend angeschlossen:
Was ist begonnen, und was ist verflossen?
Was ist verschuldet? Und was ist verziehn?

Rainer Maria Rilke



RAINER MARIA RILKE  (1875-1926)

Geo ::.

Rilke über Geduld

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Geduld

Und ich möchte dich
so gut ich kann bitten,
Geduld zu haben gegen alles Ungelöste
in deinem Herzen,
und zu verstehen.
Die Fragen selbst lieb zu haben
wie verschlossene Stuben.
Und wie Bücher, die in einer fremden Sprache
geschrieben sind.
Forsche jetzt nicht nach Antworten,
die dir nicht gegeben werden können,
weil du sie nicht leben könntest.
Und es handelt sich darum
alles zu leben.
Vielleicht lebst du dann
allmählich – ohne es zu merken –
in deine Antworten hinein.

.

Aushalten und Geduld haben, 
keine Hilfe erwarten als die ganz große, nahezu wunderbare!

.

Ich lerne es täglich, 
lerne es unter Schmerzen, denen ich dankbar bin: 
Geduld ist alles.

Rainer Maria Rilke


RAINER MARIA RILKE (1875-1926)

Geo ::.

Rilkes - Duineser Elegien ....

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Heute habe ich Rilkes erste Duineser Elegie auf Twitter veröffentlicht!

Meine Twitter Seite 
Rainer Maria rilke bei Wikipedia

Schloss Duino Italien

Erstausgabe von Rilkes Duineser Elegien. (1923 Insel Verlag Leipzig)

Rilkes "Duineser Elegien"
Duineser Elegien ist der Titel einer Sammlung von zehn Elegien des Dichters Rainer Maria Rilke, die 1912 begonnen und 1922 abgeschlossen wurden.

Duineser Elegien:
Ihr Name leitet sich vom Schloss Duino bei Triest ab, 
wo Rilke 1912 als Gast der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe zu Besuch war.

Rainer Maria Rilke-Duineser Elegien 
Aus dem Besitz der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe
(1912/1922) 

Die erste Elegie:

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel 
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme 
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem 
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts 
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, 
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, 
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. 
      Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf 
dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen 
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, 
und die findigen Tiere merken es schon, 
dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind 
in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht 
irgend ein Baum an dem Abhang, dass wir ihn täglich 
wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern 
und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, 
der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. 
      O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum 
uns am Angesicht zehrt -, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, 
sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen 
mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? 
Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los. 
      Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere 
zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht da die Vögel 
die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. 

Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche 
Sterne dir zu, dass du sie spürtest. Es hob 
sich eine Woge heran im Vergangenen, oder 
da du vorüberkamst am geöffneten Fenster, 
gab eine Geige sich hin. Das alles war Auftrag. 
Aber bewältigtest du's? Warst du nicht immer 
noch von Erwartung zerstreut, als kündigte alles 
eine Geliebte dir an? (Wo willst du sie bergen, 
da doch die großen fremden Gedanken bei dir 
aus und ein gehn und öfters bleiben bei Nacht.) 
Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; lange 
noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl. 
Jene, du neidest sie fast, Verlassenen, die du 
so viel liebender fandst als die Gestillten. Beginn 
immer von neuem die nie zu erreichende Preisung; 
denk: es erhält sich der Held, selbst der Untergang war ihm 
nur ein Vorwand, zu sein: seine letzte Geburt. 
Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur 
in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte, 
dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa 
denn genügend gedacht, dass irgend ein Mädchen, 
dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel 
dieser Liebenden fühlt: dass ich würde wie sie? 
Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen 
fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, dass wir liebend 
uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn: 
wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung 
mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends. 


Stimmen, Stimmen. Höre, mein Herz, wie sonst nur 
Heilige hörten: dass sie der riesige Ruf 
aufhob vom Boden; sie aber knieten, 
Unmögliche, weiter und achtetens nicht: 
So waren sie hörend. Nicht, dass du Gottes ertrügest 
die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre, 
die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet. 
Es rauscht jetzt von jenen jungen Toten zu dir. 
Wo immer du eintratest, redete nicht in Kirchen 
zu Rom und Neapel ruhig ihr Schicksal dich an? 
Oder es trug eine Inschrift sich erhaben dir auf, 
wie neulich die Tafel in Santa Maria Formosa. 
Was sie mir wollen? leise soll ich des Unrechts 
Anschein abtun, der ihrer Geister 
reine Bewegung manchmal ein wenig behindert. 


Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, 
kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben, 
Rosen, und andern eigens versprechenden Dingen 
nicht die Bedeutung menschlicher Zukunft zu geben; 
das, was man war in unendlich ängstlichen Händen, 
nicht mehr zu sein, und selbst den eigenen Namen 
wegzulassen wie ein zerbrochenes Spielzeug. 
Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen. Seltsam, 
alles, was sich bezog, so lose im Raume 
flattern zu sehen. Und das Totsein ist mühsam 
und voller Nachholn, dass man allmählich ein wenig 
Ewigkeit spürt. - Aber Lebendige machen 
alle den Fehler, dass sie zu stark unterscheiden. 
Engel (sagt man) wüssten oft nicht, ob sie unter 
Lebenden gehn oder Toten. Die ewige Strömung 
reißt durch beide Bereiche alle Alter 
immer mit sich und übertönt sie in beiden. 


Schließlich brauchen sie uns nicht mehr, die Früheentrückten,
man entwöhnt sich des Irdischen sanft, wie man den Brüsten
milde der Mutter entwächst. Aber wir, die so große
Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer so oft
seliger Fortschritt entspringt -: könnten wir sein ohne sie?
Ist die Sage umsonst, dass einst in der Klage um Linos
wagende erste Musik dürre Erstarrung durchdrang;
dass erst im erschrockenen Raum, dem ein beinah göttlicher Jüngling
plötzlich für immer enttrat, das Leere in jene
Schwingung geriet, die uns jetzt hinreißt und tröstet und hilft.


Rainer Maria Rilke
beendet am 21.1.1912, Duino

Geo ::.

Eine Welke ....

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- RAINER MARIA RILKE -
Eine Welke


***
YouTube Video
Rezitation: Konstantin Wecker aus: Wecker liest Rilke.

Eine Welke

Leicht, wie nach ihrem Tode
trägt sie die Handschuh, das Tuch.
Ein Duft aus ihrer Kommode
verdrängte den lieben Geruch,
an dem sie sich früher erkannte.
Jetzt fragte sie lange nicht, wer
sie sei (: eine ferne Verwandte),
und geht in Gedanken umher
und sorgt für ein ängstliches Zimmer,
das sie ordnet und schont,
weil es vielleicht noch immer
dasselbe Mädchen bewohnt.

Rainer Maria Rilke

***


Geo ::.

Im alten Hause ....

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Emil Arthur Pittermann, Prag 1916.





Im alten Hause

Im alten Hause; vor mir frei
seh ich ganz Prag in weiter Runde;
tief unten geht die Dämmerstunde
mit lautlos leisem Schritt vorbei.


Die Stadt verschwimmt wie hinter Glas.
Nur hoch, wie ein behelmter Hüne,
ragt klar vor mir die grünspangrüne
Turmkuppel von Sankt Nikolas.

Schon blinzelt da und dort ein Licht
fern auf im schwülen Stadtgebrause. -
Mir ist, daß in dem alten Hause
jetzt eine Stimme 'Amen' spricht.

Rainer Maria Rilke

Aus: Larenopfer

RAINER MARIA RILKE (1875-1926)
 
Geo ::.

Abend

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Ferdinand Loyen du Puigaudeau   A blue evening over the Grande Briere
Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder, 
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält; 
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder, 
ein himmelfahrendes und eins, das fällt; 

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend, 
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt, 
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend 
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt - 

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn) 
dein Leben bang und riesenhaft und reifend, 
so dass es, bald begrenzt und bald begreifend, 
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn. 

Rainer Maria Rilke

Herbst 1904?, Schweden

Wünsche meinen Freunden und Lesern ein schönes Wochenende.

Geo ::.

Kommt mein Frühling erst noch?

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Rainer Maria Rilke in Bad Rippoldsau
Kommt mein Frühling erst noch? 
Ist er schon lange gewesen? 
Keine Stimme steht auf und giebt mir Bescheid. 
Über Traurigsein, Träumen und Lesen 
vergeht meine Zeit. 
Steht mir das noch zu tun bevor 
was das Leben von mir verlangt ....

Rainer Maria Rilke

Aus Rainer Maria Rilke, 
Gesammelte Werke.

Mit Rilke durch das Jahr

Geo ::.

Rainer Maria Rilke - aus einem Brief an Franz Xaver Kappus ....

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Wenn Sie sich an die Natur halten, an das Einfache in ihr, 
an das Kleine, das kaum einer sieht, und das so unversehens 
zum Großen und Unermeßlichen werden kann; wenn Sie 
diese Liebe haben zu dem Geringen und ganz schlicht als 
ein Dienender das Vertrauen dessen zu gewinnen suchen, 
was arm scheint: dann wird Ihnen alles leichter, einheit- 
licher und irgendwie versöhnender werden,-nicht im Ver- 
stande vielleicht, der staunend zurückbleibt, aber in Ihrem 
innersten Bewußtsein, Wach-sein und Wissen. 

Sie sind so jung, so vor allem Anfang, und ich möchte Sie, 
so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles 
Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen 
selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bü- 
cher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. 

Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen 
nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben 
könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. 
Leben Sie jetzt die Fragen.

Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, 
eines fernen Tages in die Antwort hinein. 

Rainer Maria Rilke an Franz Xaver Kappus am 16. Juli 1903


Franz Xaver Kappus 
* 17. Mai 1883 in Temeswar, Österreich-Ungarn, heute Rumänien;
† 8. Oktober 1966 in Berlin, war ein deutscher Schriftsteller und Journalist.
an Franz Xaver Kappus - mehr bei Scribd

Mit Rilke durch das Jahr

Geo ::.

Auch du hast es einmal erlebt ....

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Robert Russel McNee, (Scottish) Early Morning Mist over the Reservoir

Auch du hast es einmal erlebt, ich weiß:
Der Tag ermattete in armen Gassen,
und seine Liebe wurde zweifelnd leis -

Dann ist ein Abschiednehmen rings im Kreis:
es schenken sich die müden Mauermassen
die letzten Fensterblicke, hell und heiß,

bis sich die Dinge nicht mehr unterscheiden.
Und halb im Traume hauchen sie sich zu:
Wie wir uns alle heimlich verkleiden,
in graue Seiden
alle uns kleiden, -
wer von uns beiden
bist jetzt du?

Rainer Maria Rilke
1898, Berlin

RAINER MARIA RILKE (1875-1926)

Geo ::.

Einsamkeit

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Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...


Rainer Maria Rilke
1902, Paris.

Alle Posts auf:

Geo ::.

Riner Maria Rilke, Duineser Elegien - die zweite Elegie.

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Die zweite Elegie

Jeder Engel ist schrecklich. Und dennoch, weh mir, 
ansing ich euch, fast tödliche Vögel der Seele, 
wissend um euch. Wohin sind die Tage Tobiae, 
da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür, 
zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar; 
(Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaussah). 
Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den Sternen 
eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochauf- 
schlagend erschlüg uns das eigene Herz. Wer seid ihr? 


Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung, 
Höhenzüge, morgenrötliche Grate 
aller Erschaffung, - Pollen der blühenden Gottheit, 
Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne, 
Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte 
stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln, 
Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit 
wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz. 


Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir 
atmen uns aus und dahin; von Holzglut zu Holzglut 
geben wir schwächern Geruch. Da sagt uns wohl einer: 
ja, du gehst mir ins Blut, dieses Zimmer, der Frühling 
füllt sich mit dir... Was hilfts, er kann uns nicht halten, 
wir schwinden in ihm und um ihn. Und jene, die schön sind, 
o wer hält sie zurück? Unaufhörlich steht Anschein 
auf in ihrem Gesicht und geht fort. Wie Tau von dem Frühgras 
hebt sich das Unsre von uns, wie die Hitze von einem 
heißen Gericht. O Lächeln, wohin? O Aufschaun: 
neue, warme, entgehende Welle des Herzens -; 
weh mir: wir sinds doch. Schmeckt denn der Weltraum, 
in den wir uns lösen, nach uns? Fangen die Engel 
wirklich nur Ihriges auf, ihnen Entströmtes, 
oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig 
unseres Wesens dabei? Sind wir in ihre 
Züge so viel nur gemischt wie das Vage in die Gesichter 
schwangerer Frauen? Sie merken es nicht in dem Wirbel 
ihrer Rückkehr zu sich. (Wie sollten sie's merken.) 


Liebende könnten, verstünden sie's, in der Nachtluft 
wunderlich reden. Denn es scheint, dass uns alles 
verheimlicht. Siehe, die Bäume sind; die Häuser, 
die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nur 
ziehen allem vorbei wie ein luftiger Austausch. 
Und alles ist einig, uns zu verschweigen, halb als 
Schande vielleicht und halb als unsägliche Hoffnung. 


Liebende, euch, ihr in einander Genügten, 
frag ich nach uns. Ihr greift euch. Habt ihr Beweise? 
Seht, mir geschiehts, dass meine Hände einander 
inne werden oder dass mein gebrauchtes 
Gesicht in ihnen sich schont. Das giebt mir ein wenig 
Empfindung. Doch wer wagte darum schon zu sein
Ihr aber, die ihr im Entzücken des anderen 
zunehmt, bis er euch überwältigt 
anfleht: nicht mehr -; die ihr unter den Händen 
euch reichlicher werdet wie Traubenjahre; 
die ihr manchmal vergeht, nur weil der andre 
ganz überhand nimmt: euch frag ich nach uns. Ich weiß, 
ihr berührt euch so seelig, weil die Liebkosung verhält, 
weil die Stelle nicht schwindet, die ihr, Zärtliche, 
zudeckt; weil ihr darunter das reine 
Dauern verspürt. So versprecht ihr euch Ewigkeit fast 
von der Umarmung. Und doch, wenn ihr der ersten 
Blicke Schrecken besteht und die Sehnsucht am Fenster, 
und den ersten gemeinsamen Gang, ein Mal durch den Garten: 
Liebende, seid ihrs dann noch? Wenn ihr einer dem andern 
euch an den Mund hebt und ansetzt -: Getränk an Getränk: 
o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der Handlung. 


Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht 
menschlicher Geste? war nicht Liebe und Abschied 
so leicht auf die Schultern gelegt, als wär es aus amderm 
Stoffe gemacht als bei uns? Gedenkt euch der Hände, 
wie sie drucklos beruhen, obwohl in den Torsen die Kraft steht. 
Diese Beherrschten wussten damit: so weit sind wirs, 
dieses ist unser, uns so zu berühren; stärker 
stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter. 


Fänden auch wir ein reines, verhaltenes, schmales 
Menschliches, einen unseren Streifen Fruchtlands 
zwischen Strom und Gestein. Denn das eigene Herz übersteigt uns 
noch immer wie jene. Und wir können ihm nicht mehr 
nachschaun in Bilder, die es besänftigen, noch in 
göttliche Körper, in denen es größer sich mäßigt.


Rainer Maria Rilke
Februar 1912, Duino

Semsakrebsler twittert Rilke's Duineser Elegien

Rainer Maria Rilke - Mit Rilke durch das Jahr::.

Rilkes "Duineser Elegien"
Duineser Elegien ist der Titel einer Sammlung von zehn Elegien des Dichters Rainer Maria Rilke, die 1912 begonnen und 1922 abgeschlossen wurden.
Ihr Name leitet sich vom Schloss Duino bei Triest ab,
wo Rilke 1912 als Gast der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe zu Besuch war.

Aus dem Besitz der Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe

(1912/1922) 

Rainer Maria Rilke auf Google Currents lesen . Smartphone oder Tablet PC?


Geo

Geo ::.

Rosengedichte zum Rosenmond | Aus Rilkes Rosenzyklus XXIII.

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Rote Rosenknospe [W]
Rose
sehr spät gekommene, 
die die bitteren Nächte aufhalten 
mit ihrere zu sternigen Helligkeit, 
Rose, errätst du die leichten vollkommenen Wonnen 
deiner sommerlichen Schwestern? 

Während Tagen und Tagen sehe ich dich, 
die du zögerst in deiner zu stark geschnürten Hülle, 
Rose, die du, im Zur-Welt-Kommen, 
die Langsamkeiten des Sterbens 
in entgegengesetzter Richtung nachahmst. 

Dein unzählbarer Zustand läßt er dich erkennen, 
in einer Mischung, wo alles ineinander übergeht, 
diesen unaussprechlichen Einklang des Nichts 
und des Seins, von dem wir nichts wissen? 

Rainer Maria Rilke

Aus: Les Roses 

"Rosenmond"
Rosenmonat, davon spricht man in Gärtnerkreisen, da die Rosenblüte im Juni ihren Höhepunkt erreicht. Aus diesem Grund wurde der Juni früher auch Rosenmond genannt.

Rote Rosen gelten seit dem Altertum als Symbol von Liebe, Freude und Jugendfrische. Die Rose war der Aphrodite, dem Eros und Dionysos geweiht, später der Isis und der Flora. Bei den Germanen war sie die Blume der Freya. Antike Sagen beschreiben die Entstehung der Rosen als Überbleibsel der Morgenröte auf Erden, als zusammen mit Aphrodite dem Meerschaum entstiegen, oder aus dem Blut des Adonis entstanden. Mit der Rose war auch die Vorstellung des Schmerzes verbunden (Keine Rose ohne Dornen) und wegen ihrer hinfälligen Kronblätter auch mit Vergänglichkeit und Tod. 

Die rote Farbe wurde auf das Blut der Aphrodite, die sich an den Stacheln verletzte, zurückgeführt, oder auf das Blut der Nachtigall, die die ursprünglich weiße Rose mit ihrem Herzblut rot färbte. Bei den Germanen wurden die Rosen mit dem Tod in Verbindung gebracht. Sie wurden auf Opferplätzen und Gräbern gepflanzt. In der Ostschweiz und im Allgäu werden heute noch abgelegene Friedhöfe als Rosengarten bezeichnet. Die Rose, besonders die weiße, gilt seit dem Altertum auch als Zeichen der Verschwiegenheit. Seit dem Mittelalter enthält das Schnitzwerk vieler Beichtstühle auch Rosen als Symbol der Verschwiegenheit: dem Priester wurde das Gesprochene sub rosa („unter der Rose“), also streng vertraulich, mitgeteilt.

Im Christentum entwickelte sich bereits früh eine Rosen-Symbolik. Die christliche Kunst kennt in den Grabnischen der Katakomben Rosenranken als Sinnbilder eines aus dem Tod erblühenden ewigen Lebens. Eine im Christentum sehr verbreitete Gebetskette und das zugehörige Gebet heißen Rosenkranz. Seit dem 11. Jahrhundert verleiht der Papst die goldene Rose, und zwar am 4. Fastensonntag, dem Sonntag Laetare, der daher auch den Namen "Rosensonntag" trägt. Die goldene Rose ist ein Christussymbol: die goldene Farbe steht für die Auferstehung Jesu Christi, die Dornen für seine Passion,
nachzulesen bei [W-Rosen]

Die Rose

Rainer Maria Rilke ging in der Zeit seines Pariser Aufenthaltes regelmäßig über einen Platz, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld anhielt.

Ohne je aufzublicken, ohne ein Zeichen des Bittens oder Dankens zu äußern, saß die Frau immer am gleichen Ort.
Rilke gab nie etwas, seine französische Begleiterin warf ihr häufig ein Geldstück hin.

Eines Tages fragte die Französin verwundert, warum er ihr nichts gebe.
Rilke antwortete: "Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand."
Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte weiße Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen.

Eine weiße Rose.

Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küßte sie und ging mit der Rose davon.
Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer.

Nach acht Tagen saß sie plötzlich wieder an der gewohnten Stelle. Sie war stumm wie damals, wiederum nur wieder ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand.

"Aber wovon hat sie denn in all den Tagen gelebt?" fragte die Französin.
Rilke antwortete: "Von der Rose...."


Rainer Maria Rilke

Geo ::.

Notizen zur Melodie der Dinge

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Notizen zur Melodie der Dinge

Ich kann mir kein seligeres Wissen denken,
als dieses Eine:
daß man ein Beginner werden muß.
Einer der das erste Wort schreibt hinter einen
jahrhundertelangen
Gedankenstrich.

Rainer Maria Rilke



Die ganze Geschichte, der gesamte Text:

Notizen zur Melodie der Dinge

I. Ganz am Anfang sind wir, siehst du.
Wie vor Allem. Mit
Tausend und einem Traum hinter uns und
ohne Tat.

II. Ich kann mir kein seligeres Wissen denken,
als dieses Eine:
daß man ein Beginner werden muß.
Einer der das erste Wort schreibt hinter einen
jahrhundertelangen
Gedankenstrich.

III. Das fällt mir ein: bei dieser Beobachtung: daß wir die Menschen noch immer auf Goldgrund malen, wie die ganz Primitiven. Vor etwas Unbestimmtem stehen sie. Manchmals vor Gold, manchmals auch vor Grau. Im Licht manchmals, und oft mit unergründlichem Dunkel hinter sich.

IV. Man begreift das. Um die Menschen zu erkennen, mußte man sie isolieren. Aber nach einer langen Erfahrung ist es billig, die Einzelbetrachtungen wieder in ein Verhältnis zu setzen, und mit gereiftem Blick ihre breiteren Gebärden zu begleiten.

V. Vergleiche einmal ein Goldgrundbild aus dem Trecento mit einer von den zahlreichen späteren Kompositionen italienischer Frühmeister, wo die Gestalten zu einer Santa Conversazione vor der leuchtenden Landschaft in der lichten Luft Umbriens sich zusammenfinden. Der Goldgrund isoliert eine jede, die Landschaft glänzt hinter ihnen wie eine gemeinsame Seele, aus der heraus sie ihr Lächeln und ihre Liebe holen.

VI. Dann denke an das Leben selbst. Erinnere dich, daß die Menschen viele und bauschige Gebärden und unglaublich große Worte haben. Wenn sie nur eine Weile so ruhig und reich waren, wie die schönen Heiligen des Marco Basaiti, müßtest du auch hinter ihnen die Landschaft finden, die ihnen gemeinsam ist.

VII. Und es giebt ja auch Augenblicke, da sich ein Mensch vor dir still und klar abhebt von seiner Herrlichkeit. Das sind seltene Feste, welche du niemals vergißt. Du liebst diesen Menschen fortan. Das heißt du bist bemüht die Umrisse seiner Persönlichkeit, wie du sie in jener Stunde erkannt hast, nachzuzeichnen mit deinen zärtlichen Händen.

VIII. Die Kunst tut dasselbe. Sie ist ja die weitere, unbescheidenere Liebe. Sie ist die Liebe Gottes. Sie darf nicht bei dem Einzelnen stehen bleiben, der nur die Pforte des Lebens ist. Sie muß ihn durchwandern. Sie darf nicht müde werden. Um sich zu erfüllen muß sie dort wirken, wo Alle – Einer sind. Wenn sie dann diesen Einen beschenkt, kommt grenzenloser Reichtum über Alle.

IX. Wie weit sie davon ist, mag man auf der Bühne sehen, wo sie doch sagt oder sagen will, wie sie das Leben, nicht den Einzelnen in seiner idealen Ruhe, sondern die Bewegung und den Verkehr Mehrer(er) betrachtet. Dabei ergiebt sich, daß sie die Menschen einfach neben einander stellt, wie die im Trecento es taten, und es ihnen selbst überläßt sich mit einander zu befreunden über das Grau oder das Gold des Hintergrundes hin.

X. Und darum wird es auch so. Mit Worten und Gesten suchen sie sich zu erreichen. Sie renken sich fast die Arme aus, denn die Gebärden sind viel zu kurz. Sie machen unendliche Anstrengungen die Silben einander zuzuwerfen und sind dabei noch herzlich schlechte Ballspieler, die nicht auffangen können. So vergeht die Zeit mit Bücken und Suchen – ganz wie im Leben.

XI. Und die Kunst hat nichts getan, als uns die Verwirrung gezeigt in welcher wir uns meistens befinden. Sie hat uns beängstigt, statt uns still und ruhig zu machen. Sie hat bewiesen, daß wir jeder auf einer anderen Insel leben; nur sind die Inseln nicht weit genug um einsam und unbekümmert zu bleiben. Einer kann den Anderen stören oder schrecken oder mit Speeren verfolgen – nur helfen kann keiner keinem.

XII. Von Eiland zu Eiland giebt es nur eine Möglichkeit: gefährliche Sprünge, bei denen man mehr als die Fuße gefährdet. Ein ewiges Hin- und Herhüpfen entsteht mit Zufällen und Lächerlichkeiten; denn es kommt vor, daß zwei zueinander springen, gleichzeitig, so daß sie einander nur in der Luft begegnen, und nach diesem mühsamen Wechsel ebenso weit sind Eines vom Anderen – wie vorher.

XIII. Das ist weiter nicht wunderlich; denn in der Tat sind die Brücken zu einander, darüber man schön und festlich gegangen kommt, nicht in uns, sondern hinter uns, ganz wie auf den Landschaften des Fra Bartholome oder des Lionardo. Es ist doch so, daß das Leben sich zuspitzt in den einzelnen Persönlichkeiten. Von Gipfel zu Gipfel aber geht der Pfad durch die breiteren Tale.

XIV. Wenn zwei oder drei Menschen zusammenkommen, sind sie deshalb noch nicht beisammen. Sie sind wie Marionetten deren Drähte in verschiedenen Händen liegen. Erst wenn eine Hand alle lenkt, kommt eine Gemeinsamkeit über sie, welche sie zum Verneigen zwingt oder zum Dreinhauen. Und auch die Kräfte des Menschen sind dort, wo seine Drähte enden in einer haltenden herrschenden Hand.

XV. Erst in der gemeinsamen Stunde, in dem gemeinsamen Sturm, in der einen Stube, darin sie sich begegnen, finden sie sich. Erst bis ein Hintergrund hinter ihnen steht, beginnen sie miteinander zu verkehren. Sie müssen sich ja berufen können auf die eine Heimat. Sie müssen einander gleichsam die Beglaubigungen zeigen, welche sie mit sich tragen und welche Alle den Sinn und das Insiegel desselben Fürsten enthalten.

XVI. Sei es das Singen einer Lampe oder die Stimme des Sturms, sei es das Atmen des Abends oder das Stöhnen des Meeres, das dich umgiebt – immer wacht hinter dir eine breite Melodie, aus tausend Stimmen gewoben, in der nur da und dort dein Solo Raum hat. Zu wissen, wann Du einzufallen hast, das ist das Geheimnis deiner Einsamkeit: wie es die Kunst des wahren Verkehres ist: aus den hohen Worten sich fallen lassen in die eine gemeinsame Melodie.

XVII. Wenn die Heiligen des Marco Basaiti sich etwas anzuvertrauen hätten außer ihrem seligen Nebeneinandersein, sie würden sich nicht vorn im Bild, drin sie wohnen, ihre schmalen, sanften Hände reichen. Sie würden sich zurückziehen, gleich klein werden und tief im lauschenden Land über die winzigen Brücken zueinander kommen.

XVIII. Wir vorn sind ganz ebenso. Segnende Sehnsüchte. Unsere Erfüllungen geschehen weit in leuchtenden Hintergründen. Dort ist Bewegung und Wille. Dort spielen die Historien, deren dunkle Überschriften wir sind. Dort ist unser Vereinen und unser Abschiednehmen, Trost und Trauer. Dort sind wir, während wir im Vordergrunde kommen und gehen.

XIX. Erinnere dich an Menschen, die du beisammen fandest, ohne daß sie eine gemeinsame Stunde um sich hatten. Zum Beispiel Verwandte, die sich im Sterbezimmer einer wirklich geliebten Person begegnen. Da lebt die eine in dieser, die andere in jener tiefen Erinnerung. Ihre Worte gehen aneinander vorbei, ohne daß sie von einander wissen. Ihre Hände verfehlen sich in der ersten Verwirrung. – Bis der Schmerz hinter ihnen breit wird. Sie setzen sich hin, senken die Stirnen und schweigen. Es rauscht über ihnen wie ein Wald. Und sie sind einander nahe, wie nie vorher.

XX. Sonst, wenn nicht ein schwerer Schmerz die Menschen gleich still macht, hört der eine mehr, der andere weniger von der mächtigen Melodie des Hintergrundes. Viele hören sie gar nicht mehr. Sie sind wie Bäume welche ihre Wurzeln vergessen haben und nun meinen, daß das Rauschen ihrer Zweige ihre Kraft und ihr Leben sei. Viele haben nicht Zeit sie zu hören. Sie dulden keine Stunde um sich. Das sind arme Heimatlose, die den Sinn des Daseins verloren haben. Sie schlagen auf die Tasten der Tage und spielen immer denselben monotonen verlorenen Ton.

XXI. Wollen wir also Eingeweihte des Lebens sein, müssen wir zweierlei bedenken: Einmal die große Melodie, in der Dinge und Düfte, Gefühle und Vergangenheiten, Dämmerungen und Sehnsüchte mitwirken, – und dann: die einzelnen Stimmen, welche diesen vollen Chor ergänzen und vollenden.
Und um ein Kunstwerk, heißt: Bild des tieferen Lebens, des mehr als heutigen, immer zu allen Zeiten möglichen Erlebens, zu begründen, wird es notwendig sein die beiden Stimmen, die einer betreffenden Stunde und die einer Gruppe von Menschen darin, in das richtige Verhältnis zu setzen und auszugleichen.

XXII. Zu diesem Zweck muß man die beiden Elemente der Lebensmelodie in ihren primitiven Formen erkannt haben; man muß aus den rauschenden Tumulten des Meeres den Takt des Wogenschlages ausschälen und aus dem Netzgewirr täglichen Gespräches die lebendige Linie gelöst haben, welche die anderen trägt. Man muß die reinen Farben nebeneinanderhalten um ihre Kontraste und Vertraulichkeiten kennenzulernen.  Man muß das Viele vergessen haben, um des Wichtigen willen.

XXIII. Zwei Menschen, die in gleichem Grade leise sind, müssen nicht von der Melodie ihrer Stunden reden. Diese ist ihr an und für sich Gemeinsames. Wie ein brennender Altar ist sie zwischen ihnen und sie nähren die heilige Flamme fürchtig mit ihren seltenen Silben.
Setze ich diese beiden Menschen aus ihrem absichtlosen Sein auf die Bühne, so ist mir offenbar darum zu tun, zwei Liebende zu zeigen und zu erklären, warum sie selig sind. Aber auf der Szene ist der Altar unsichtbar und es weiß keiner sich die seltsamen Gesten der Opfernden zu erklären.

XXIV. Da giebt es nun zwei Auswege:
entweder die Menschen müssen sich erheben und mit vielen Worten und verwirrenden Gebärden zu sagen versuchen, was sie vorher lebten.
Oder:
ich ändere nichts an ihrem tiefen Tun und sage selbst diese Worte dazu:
Hier ist ein Altar, auf welchem eine heilige Flamme brennt. Ihren Glanz können Sie auf den Gesichtern dieser beiden Menschen bemerken.

XXV. Das Letztere erscheint mir einzig künstlerisch. Es geht nichts von dem Wesentlichen verloren; keine Vermengung der einfachen Elemente trübt die Reihe der Ereignisse, wenn ich den Altar, der die zwei Einsamen vereint, so schildere, daß Alle ihn sehen und an sein Vorhandensein glauben. Viel später wird es den Schauenden unwillkürlich werden, die flammende Säule zu sehen, und ich werde nichts Erläuterndes hinzu sagen müssen. Viel später.

XXVI. Aber das mit dem Altar ist nur ein Gleichnis, und ein sehr ungefähres obendrein. Es handelt sich darum, auf der Szene die gemeinsame Stunde, das worin die Personen zuworte kommen, auszudrücken. Dieses Lied, welches im Leben den tausend Stimmen des Tages oder der Nacht, dem Waldrauschen oder dem Uhrenticken und ihrem zögernden Stundenschlag überlassen bleibt, dieser breite Chor des Hintergrundes, der den Takt und Ton unserer Worte bestimmt, läßt sich auf der Bühne zunächst nicht mit den gleichen Mitteln begreiflich machen.

XXVII. Denn das was man »Stimmung« nennt und was ja in neueren Stücken auch teilweise zu seinem Rechte kommt, ist doch nur ein erster unvollkommener Versuch, die Landschaft hinter Menschen, Worten und Winken durchschimmern zu lassen, wird von den Meisten überhaupt nicht bemerkt und kam um seiner leiseren Intimität willen überhaupt nicht von Allen bemerkt werden. Eine technische Verstärkung einzelner Geräusche oder Beleuchtungen wirkt lächerlich, weil sie aus tausend Stimmen eine einzelne zuspitzt, so daß die ganze Handlung an der einen Kante hängen bleibt.

XXVIII. Diese Gerechtigkeit gegen das breite Lied des Hintergrundes bleibt nur erhalten, wenn man es in seinem ganzen Umfange gelten läßt, was zunächst sowohl den Mitteln unserer Bühne, wie der Auffassung der mißtrauischen Menge gegenüber untunlich erscheint. – Das Gleichgewicht kann nur durch eine strenge Stilisierung erreicht werden. Wenn man nämlich die Melodie der Unendlichkeit auf denselben Tasten spielt, auf denen die Hände der Handlung ruhen, das heißt das Große und Wortlose zu den Worten herunterstimmt.

XXIX. Dieses ist nichts anderes als die Einführung eines Chors, der sich ruhig aufrollt hinter den lichten und flimmernden Gesprächen. Dadurch daß die Stille in ihrer ganzen Breite und Bedeutung fortwährend wirkt, erscheinen die Worte vorn als ihre natürlichen Ergänzungen, und es kann dabei eine geründete Darstellung des Lebensliedes erzielt werden, welche sonst schon durch die Unverwendbarkeit von Düften und dunklen Empfindungen auf der Bühne, ausgeschlossen schien.

XXX. Ich will ein ganz kleines Beispiel andeuten; –
Abend. Eine kleine Stube. Am Mitteltisch unter der Lampe sitzen zwei Kinder einander gegenüber, ungern über ihre Bücher geneigt. Sie sind beide weit – weit. Die Bücher verdecken ihre Flucht. Dann und wann rufen sie sich an, um sich nicht in dem weiten Wald ihrer Träume zu verlieren. Sie erleben in der engen  Stube bunte und phantastische Schicksale. Sie kämpfen und siegen. Kommen heim und heiraten. Lehren ihre Kinder Helden sein. Sterben wohl gar.
Ich bin so eigenwillig, das für Handlung zu halten!

XXXI. Aber was ist diese Szene ohne das Singen der hellen altmodischen Hängelampe, ohne das Atmen und Stöhnen der Möbel, ohne den Sturm um das Haus. Ohne diesen ganzen dunklen Hintergrund, durch welchen sie die Fäden ihrer Fabeln ziehen. Wie anders würden die Kinder im Garten träumen, anders am Meer, anders auf der Terrasse eines Palastes. Es ist nicht gleichgültig, ob man in Seide oder in Wolle stickt. Man muß wissen, daß sie in dem gelben Canevas dieses Stubenabends die paar ungelenken Linien ihres Maeandermusters unsicher wiederholen.

XXXII. Ich denke nun daran, die ganze Melodie so wie die Knaben sie hören, erklingen zu lassen. Eine stille Stimme muß sie über der Szene schweben, und auf ein unsichtbares Zeichen fallen die winzigen Kinderstimmen ein und treiben hin, während der breite Strom durch die enge Abendstube weiterrauscht von Unendlichkeit zu Unendlichkeit.

XXXIII. Solcher Szenen weiß ich viele und breitere. Je nach ausdrücklicher ich meine allseitiger Stilisierung oder vorsichtiger Andeutung derselben, findet der Chor auf der Szene selbst seinen Raum und wirkt dann auch durch seine wachsame Gegenwart, oder sein Anteil beschränkt sich auf die Stimme, die, breit und unpersönlich, aus dem Brauen der gemeinsamen Stunde steigt. In jedem Fall wohnt auch in ihr, wie im antiken Chor, das weisere Wissen; nicht weil sie urteilt über das Geschehen der Handlung, sondern weil sie die Basis ist, aus der jenes leisere Lied sich auslöst und in deren Schooß es endlich schöner zurückfällt.

XXXIV. Die stilisierte, also unrealistische Darstellung halte ich in diesem Fall nur für einen Übergang; denn auf der Bühne wird immer diejenige Kunst am willkommensten sein, welche lebensähnlich und in diesem äußeren Sinne »wahr« ist. Aber dieses gerade ist der Weg zu einer selbst sich vertiefenden, innerlichen Wahrheit: die primitiven Elemente zu erkennen und zu verwenden. Hinter einer ernsten Erfahrung wird man die begriffenen Grundmotive freier und eigenwilliger brauchen lernen und damit auch wieder dem realistischen, dem zeitlich Wirklichen näher kommen. Es wird aber nicht dasselbe sein wie vorher.

XXXV. Diese Bemühungen erscheinen mir notwendig, weil sonst die Erkenntnis der feineren Gefühle die eine lange und ernste Arbeit sich errang, im Lärm der Bühne ewig verloren gehen »würde«. Und das ist schade. Von der Bühne her kann, wenn es tendenzlos und unbetont geschieht, das neue Leben verkündet, das heißt auch denen vermittelt werden, die nicht aus eigenem Drang und eigener Kraft seine Gebärden lernen. Sie sollen nicht bekehrt werden von der Szene her. Aber sie sollen wenigstens erfahren: das giebt es in unserer Zeit, eng neben uns. Das ist schon Glückes genug.

XXXVI. Denn es ist fast von der Bedeutung einer Religion, dieses Einsehen: daß man, sobald man einmal die Melodie des Hintergrundes gefunden hat, nicht mehr ratlos ist in seinen Worten und dunkel in seinen Entschlüssen. Es ist eine sorglose Sicherheit in der einfachen Überzeugung, Teil einer Melodie zu sein, also einen bestimmten Raum zu Recht zu besitzen und eine bestimmte Pflicht an einem breiten Werke zu haben, in dem der Geringste ebensoviel wertet wie der Größte. Nicht überzählig zu sein, ist die erste Bedingung der bewußten und ruhigen Entfaltung.

XXXVII. Aller Zwiespalt und Irrtum kommt davon her, daß die Menschen das Gemeinsame in sich, statt in den Dingen hinter sich, im Licht, in der Landschaft im Beginn und im Tode, suchen. Sie verlieren dadurch sich selbst und gewinnen nichts dafür. Sie vermischen sich, weil sie sich doch nicht vereinen können. Sie halten sich aneinander und können doch nicht sicheren Fuß fassen, weil sie beide schwankend und schwach sind; und in diesem gegenseitigen Sich-stützen-wollen geben sie ihre ganze Stärke aus, so daß nach außen hin auch nicht die Ahnung eines Wellenschlages fühlbar wird.

XXXVIII. Jedes Gemeinsame setzt aber eine Reihe unterschiedener einsamer Wesen voraus. Vor ihnen war es einfach ein Ganzes ohne jegliche Beziehung, so vor sich hin. Es war weder arm noch reich. Mit dem Augenblick, wo verschiedene seiner Teile der mütterlichen Einheit entfremden, tritt es in Gegensatz zu ihnen; denn sie entwickeln sich von ihm fort. Aber es läßt sie doch nicht aus der Hand. Wenn die Wurzel auch nicht von den Früchten weiß, sie nährt sie doch.

XXXIX. Und wie Früchte sind wir. Hoch hangen wir in seltsam verschlungenen Asten und viele Winde geschehen uns. Was wir besitzen, das ist unsere Reife und Süße und Schönheit. Aber die Kraft dazu strömt in einem Stamm aus einer über Welten hin weit gewordenen Wurzel in uns Alle. Und wenn wir für ihre Macht zeugen wollen, so müssen wir sie jeder brauchen in unserem einsamsten Sinn. Je mehr Einsame, desto feierlicher, ergreifender und mächtiger ist ihre Gemeinsamkeit.

XXXX. Und gerade die Einsamsten haben den größten Anteil an der Gemeinsamkeit. Ich sagte früher, daß der eine mehr, der andere weniger von der breiten Lebensmelodie vernimmt; dem entsprechend fallt ihm auch eine kleinere oder geringere Pflicht in dem großen Orchester zu. Derjenige, welcher die ganze Melodie vernähme, wäre der Einsamste und Gemeinsamste zugleich. Denn er würde hören, was Keiner hört, und doch nur weil er in seiner Vollendung begreift, was die anderen dunkel und lückenhaft erlauschen.



Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 5, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 
1955–1966, S. 412-426.
Gemeinfrei

RAINER MARIA RILKE

Geo ::.

Die 3. Duineser Elegie ....

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Schloss Duino

Rilkes "Duineser Elegien"
Duineser Elegien ist der Titel einer Sammlung von zehn Elegien des Dichters Rainer Maria Rilke,
die 1912 begonnen und 1922 abgeschlossen wurden.

Duineser Elegien : Ihr Name leitet sich vom Schloss Duino bei Triest ab,
wo Rilke 1912 als Gast der Gräfin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe zu Besuch war.

Die dritte Elegie

Eines ist, die Geliebte zu singen. Ein anderes, wehe,
jenen verborgenen schuldigen Fluss-Gott des Bluts.
Den sie von weitem erkennt, ihren Jüngling, was weiß er
selbst von dem Herren der Lust, der aus dem Einsamen oft,
ehe das Mädchen noch linderte, oft auch als wäre sie nicht,
ach, von welchem Unkenntlichen triefend, das Gotthaupt
aufhob, aufrufend die Nacht zu unendlichem Aufruhr.
O des Blutes Neptun, o sein furchtbarer Dreizack,
o der dunkele Wind seiner Brust aus gewundener Muschel.
Horch, wie die Nacht sich muldet und höhlt. Ihr Sterne,
stammt nicht von euch des Liebenden Lust zu dem Antlitz
seiner Geliebten? Hat er die innige Einsicht
in ihr reines Gesicht nicht aus dem reinen Gestirn?


Du nicht hast ihm, wehe, nicht seine Mutter
hat ihm die Bogen der Braun so zur Erwartung gespannt.
Nicht an dir, ihn fühlendes Mädchen, an dir nicht
bog seine Lippe sich zum fruchtbarern Ausdruck.
Meinst du wirklich, ihn hätte dein leichter Auftritt
also erschüttert, du, die wandelt wie Frühwind?
Zwar du erschrakst ihm das Herz; doch ältere Schrecken
stürzten in ihn bei dem berührenden Anstoß.
Ruf ihn ... du rufst ihn nicht ganz aus dunkelem Umgang.
Freilich, er will, er entspringt; erleichtert gewöhnt er
sich in dein heimliches Herz und nimmt und beginnt sich.
Aber begann er sich je?
Mutter, du machtest ihn klein, du warsts, die ihn anfing;
dir war er neu, du beugtest über die neuen
Augen die freundliche Welt und wehrtest der fremden.
Wo, ach, hin sind die Jahre, da du ihm einfach
mit der schlanken Gestalt wallendes Chaos vertratst?
Vieles verbargst du ihm so; das nächtlich-verdächtige Zimmer
machtest du harmlos, aus deinem Herzen voll Zuflucht
mischtest du menschlichern Raum seinem Nacht-Raum hinzu.
Nicht in die Finsternis, nein, in dein näheres Dasein
hast du das Nachtlicht gestellt, und es schien wie aus Freundschaft.
Nirgends ein Knistern, das du nicht lächelnd erklärtest,
so als wüsstest du längst, wann sich die Diele benimmt...
Und er horchte und linderte sich. So vieles vermochte
zärtlich dein Aufstehn; hinter den Schrank trat
hoch im Mantel sein Schicksal, und in die Falten des Vorhangs
passte, die leicht sich verschob, seine unruhige Zukunft.


Und er selbst, wie er lag, der Erleichterte, unter
schläfernden Lidern deiner leichten Gestaltung
Süße lösend in den gekosteten Vorschlaf -:
schien ein Gehüteter... Aber innen: wer wehrte,
hinderte innen in ihm die Fluten der Herkunft?
Ach, da war keine Vorsicht im Schlafenden; schlafend,
aber träumend, aber in Fiebern: wie er sich ein-ließ.
Er, der Neue, Scheuende, wie er verstrickt war,
mit des innern Geschehens weiterschlagenden Ranken
schon zu Mustern verschlungen, zu würgendem Wachstum, zu tierhaft
jagenden Formen. Wie er sich hingab -. Liebte.
Liebte sein Inneres, seines Inneren Wildnis,
diesen Urwald in ihm, auf dessen stummem Gestürztsein
lichtgrün sein Herz stand. Liebte. Verließ es, ging die
eigenen Wurzeln hinaus in gewaltigen Ursprung,
wo seine kleine Geburt schon überlebt war. Liebend
stieg er hinab in das ältere Blut, in die Schluchten,
wo das Furchtbare lag, noch satt von den Vätern. Und jedes
Schreckliche kannte ihn, blinzelte, war wie verständigt.
Ja, das Entsetzliche lächelte... Selten
hast du so zärtlich gelächelt, Mutter. Wie sollte
er es nicht lieben, da es ihm lächelte. Vor dir
hat ers geliebt, denn, da du ihn trugst schon,
war es im Wasser gelöst, das den Keimenden leicht macht.


Siehe, wir lieben nicht, wie die Blumen, aus einem
einzigen Jahr; uns steigt, wo wir lieben,
unvordenklicher Saft in die Arme. O Mädchen,
dies: dass wir liebten in uns, nicht Eines, ein Künftiges, sondern
das zahllos Brauende; nicht ein einzelnes Kind,
sondern die Väter, die wie Trümmer Gebirgs
uns im Grunde beruhn; sondern das trockene Flussbett
einstiger Mütter -; sondern die ganze
lautlose Landschaft unter dem wolkigen oder
reinen Verhängnis -: dies kam dir, Mädchen, zuvor.


Und du selber, was weißt du -, du locktest
Vorzeit empor in dem Liebenden. Welche Gefühle
wühlten herauf aus entwandelten Wesen. Welche
Frauen hassten dich da. Was für finstere Männer
regtest du auf im Geäder des Jünglings? Tote
Kinder wollten zu dir... O leise, leise,
tu ein liebes vor ihm, ein verlässliches Tagwerk, - führ ihn
nah an den Garten heran, gieb ihm der Nächte
Übergewicht......
                              Verhalt ihn......


Rainer Maria Rilke 

Duineser Elegien : Begonnen Anfang 1912, Duino, beendet im Herbst 1913, Paris.

Mit Rilke durch das Jahr : Rainer Maria Rilke

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Rosenerben ....

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Konstantin Korovin, Frau mit Rosen im Haar, (pinterest)


Weißt du, 
daß ich dir müde Rosen flechte ins Haar, 
das leis ein weher Wind bewegt - 
Siehst du den Mond 
wie eine silberechte Merkmünze, 
und dein Bild ist eingeprägt: 
ein Weib, 
das lächelnd dunkle Dornen trägt - 
Das ist das Zeichen toter Liebesnächte. 

Fühlst du die Rosen auf der Stirne sterben? 
Und jede läßt die Schwester schauernd los 
und muß allein verdarben und verderben, 
und alle fallen fahl in deinen Schoß. 
Dort sind sie tot. 
Ihr Leid war leis und groß. 

Komm in die Nacht. 
Und wir sind Rosenerben. 

Rainer Maria Rilke
~(1897)~


Paula Moderson Becker, Portrait von Clara Rilke Westhoff. 1905
Portrait mit Rose, Clara Rilke - Westhoff, Ehefrau von Rainer Maria Rilke.

Konstantin Korovin

Mit Rilke durch das Jahr - Rainer Maria Rilke

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Rosen in Rilkes Dichtung.

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Rainer Maria Rilke


O wo ist der, 
der aus Besitz und Zeit ....

O wo ist der, der aus Besitz und Zeit 
zu seiner großen Armut so erstarkte, 
dass er die Kleider abtat auf dem Markte 
und bar einherging vor des Bischofs Kleid. 
Der Innigste und Liebendste von allen, 
der kam und lebte wie ein junges Jahr; 
der braune Bruder deiner Nachtigallen, 
in dem ein Wundern und ein Wohlgefallen 
und ein Entzücken an der Erde war. 

Denn er war keiner von den immer Müdern, 
die freudeloser werden nach und nach, 
mit kleinen Blumen wie mit kleinen Brüdern 
ging er den Wiesenrand entlang und sprach. 
Und sprach von sich und wie er sich verwende 
so dass es allem eine Freude sei; 
und seines hellen Herzens war kein Ende, 
und kein Geringes ging daran vorbei. 

Er kam aus Licht zu immer tieferm Lichte, 
und seine Zelle stand in Heiterkeit. 
Das Lächeln wuchs auf seinem Angesichte 
und hatte seine Kindheit und Geschichte 
und wurde reif wie eine Mädchenzeit. 

Und wenn er sang, so kehrte selbst das Gestern 
und das Vergessene zurück und kam; 
und eine Stille wurde in den Nestern, 
und nur die Herzen schrieen in den Schwestern, 
die er berührte wie ein Bräutigam. 

Dann aber lösten seines Liedes Pollen 
sich leise los aus seinem roten Mund 
und trieben träumend zu den Liebevollen 
und fielen in die offenen Corollen 
und sanken langsam auf den Blütengrund. 

Und sie empfingen ihn, den Makellosen, 
in ihrem Leib, der ihre Seele war. 
Und ihre Augen schlossen sich wie Rosen, 
und voller Liebesnächte war ihr Haar. 

Und ihn empfing das Große und Geringe. 
Zu vielen Tieren kamen Cherubim 
zu sagen, dass ihr Weibchen Früchte bringe, - 
und waren wunderschöne Schmetterlinge: 
denn ihn erkannten alle Dinge 
und hatten Fruchtbarkeit aus ihm. 

Und als er starb, so leicht wie ohne Namen, 
da war er ausgeteilt: sein Samen rann 
in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen 
und sah ihn ruhig aus den Blumen an. 
Er lag und sang. Und als die Schwestern kamen, 
da weinten sie um ihren lieben Mann. 

Rainer Maria Rilke 
19. und 20.4.1903, Viareggio [Google-Maps]



Rainer Maria Rilke 1875-1926 [W]
Mit Rilke durch das Jahr - Rainer Maria Rilke

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" QUOD VERUM TUTUM "

Rosen in Rilkes Dichtung

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Florenz

Erste Rosen erwachen

Erste Rosen erwachen,
und ihr Duften ist zag
wie ein leisleises Lachen;
flüchtig mit schwalbenflachen
Flügeln streift es den Tag;

und wohin du langst,
da ist alles noch Angst.

Jeder Schimmer ist scheu,
und kein Klang ist noch zahm,
und die Nacht ist zu neu,
und die Schönheit ist Scham.

Rainer Maria Rilke

9.5.1898, Florenz (San Miniato)
Google Maps- San Miniato

John William Waterhouse, the Soul of the Rose.

RAINER MARIA RILKE 1875-1926
Mit Rilke durch das Jahr-Rainer Maria Rilke

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QUOD VERUM TUTUM

Rosen in Rilkes Dichtung

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Rosenschale

Die Rosenschale

Die Rosenschale

Zornige sahst du flackern, sahst zwei Knaben
zu einem Etwas sich zusammenballen,
das Hass war und sich auf der Erde wälzte
wie ein von Bienen überfallnes Tier;
Schauspieler, aufgetürmte Übertreiber,
rasende Pferde, die zusammenbrachen,
den Blick wegwerfend, bläkend das Gebiss
als schälte sich der Schädel aus dem Maule.

Nun aber weißt du, wie sich das vergisst:
denn vor dir steht die volle Rosenschale,
die unvergesslich ist und angefüllt
mit jenem Äußersten von Sein und Neigen,
Hinhalten, Niemals-Gebenkönnen, Dastehn,
das unser sein mag: Äußerstes auch uns.

Lautloses Leben, Aufgehn ohne Ende,
Raum-brauchen ohne Raum von jenem Raum
zu nehmen, den die Dinge rings verringern,
fast nicht Umrissen-sein wie Ausgespartes
und lauter Inneres, viel seltsam Zartes
und Sich-bescheinendes - bis an den Rand:
ist irgend etwas uns bekannt wie dies?

Und dann wie dies: dass ein Gefühl entsteht,
weil Blütenblätter Blütenblätter rühren?
Und dies: dass eins sich aufschlägt wie ein Lid,
und drunter liegen lauter Augenlider,
geschlossene, als ob sie, zehnfach schlafend,
zu dämpfen hätten eines Innern Sehkraft.
Und dies vor allem: dass durch diese Blätter
das Licht hindurch muss. Aus den tausend Himmeln
filtern sie langsam jenen Tropfen Dunkel,
in dessen Feuerschein das wirre Bündel
der Staubgefäße sich erregt und aufbäumt.

Und die Bewegung in den Rosen, sieh:
Gebärden von so kleinem Ausschlagswinkel,
dass sie unsichtbar blieben, liefen ihre
Strahlen nicht auseinander in das Weltall.

Sieh jene weiße, die sich selig aufschlug
und dasteht in den großen offnen Blättern
wie eine Venus aufrecht in der Muschel;
und die errötende, die wie verwirrt
nach einer kühlen sich hinüberwendet,
und wie die kühle fühllos sich zurückzieht,
und wie die kalte steht, in sich gehüllt,
unter den offenen, die alles abtun.
Und was sie abtun, wie das leicht und schwer,
wie es ein Mantel, eine Last, ein Flügel
und eine Maske sein kann, je nach dem,
und wie sie's abtun: wie vor dem Geliebten.

Was können sie nicht sein: war jene gelbe,
die hohl und offen daliegt, nicht die Schale
von einer Frucht, darin dasselbe Gelb,
gesammelter, orangeröter, Saft war?
Und wars für diese schon zu viel, das Aufgehn,
weil an der Luft ihr namenloses Rosa
den bittern Nachgeschmack des Lila annahm?
Und die batistene, ist sie kein Kleid,
in dem noch zart und atemwarm das Hemd steckt,
mit dem zugleich es abgeworfen wurde
im Morgenschatten an dem alten Waldbad?
Und diese hier, opalnes Porzellan,
zerbrechlich, eine flache Chinatasse
und angefüllt mit kleinen hellen Faltern, -
und jene da, die nichts enthält als sich.

Und sind nicht alle so, nur sich enthaltend,
wenn Sich-enthalten heißt: die Welt da draußen
und Wind und Regen und Geduld des Frühlings
und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal
und Dunkelheit der abendlichen Erde
bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug,
bis auf den vagen Einfluss ferner Sterne
in eine Hand voll Innres zu verwandeln.

Nun liegt es sorglos in den offnen Rosen.

Rainer Maria Rilke

um Neujahr 1907, Capri [ Google Maps.Capri ]

RAINER MARIA RILKE 1875-1926
Mit Rilke durch das Jahr - Rainer Maria Rilke

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QUOD VERUM TUTUM

Rosen in Rilkes Dichtung

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Peder Severin Kroyer, Rosen. Eingezäunter Garten mit Rosen und der Frau (Marie Kroyer) des Künstlers.


Gehst du außen Mauern entlang, kannst du die vielen Rosen ....

Gehst du außen Mauern entlang,
kannst du die vielen Rosen nicht schauen
in dem fremden Gartengang;
aber in deinem tiefen Vertrauen
darfst du sie fühlen wie nahende Frauen.

Sicher schreiten sie zwei zu zwein,
und sie halten sich um die Hüften, -
und die roten singen allein;
und dann fallen mit ihren Düften
leise, leise die weißen ein...


Rainer Maria Rilke

4.5.1898, Florenz (Ripoli) [Google Maps-Florenz Ripoli]


RAINER MARIA RILKE 1875-1926
Mit Rilke durch das Jahr - Rainer Maria Rilke

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"QOUD VERUM TUTUM"
House of Courtenay
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