Rainer Maria Rilke
Thema : Texte - Gedichte von Rainer Maria Rilke
in Verbindung mit dem Wort und Begriff: NATUR.
JAN TOOROP, Kastanienbaum
Und du erbst das Grün
Und du erbst das Grün
vergangner Gärten und das stille Blau
zerfallner Himmel.
Tau aus tausend Tagen,
die vielen Sommer, die die Sonnen sagen,
und lauter Frühlinge mit Glanz und Klagen
wie viele Briefe einer jungen Frau.
Du erbst die Herbste, die wie Prunkgewänder
in der Erinnerung von Dichtern liegen,
und alle Winter, wie verwaiste Länder,
scheinen sich leise an dich anzuschmiegen.
Du erbst Venedig und Kasan und Rom,
Florenz wird dein sein, der Pisaner Dom,
die Troïtzka Lawra und das Monastir,
das unter Kiews Gärten ein Gewirr
von Gängen bildet, dunkel und verschlungen, -
Moskau mit Glocken wie Erinnerungen, -
und Klang wird dein sein Geigen, Hörner, Zungen,
und jedes Lied, das tief genug erklungen,
wird an dir glänzen wie ein Edelstein.
Für dich nur schließen sich die Dichter ein
und sammeln Bilder, rauschende und reiche,
und gehn hinaus und reifen durch Vergleiche
und sind ihr ganzes Leben so allein...
Und Maler malen ihre Bilder nur,
damit du unvergänglich die Natur,
die du vergänglich schufst, zurückempfängst:
alles wird ewig. Sieh, das Weib ist längst
in der Madonna Lisa reif wie Wein;
es müsste nie ein Weib mehr sein,
denn Neues bringt kein neues Weib hinzu.
Die, welche bilden, sind wie du.
Sie wollen Ewigkeit. Sie sagen: Stein,
sei ewig. Und das heißt: sei dein!
Und auch, die lieben, sammeln für dich ein:
Sie sind die Dichter einer kurzen Stunde,
sie küssen einem ausdruckslosen Munde
ein Lächeln auf, als formten sie ihn schöner,
und bringen Lust und sind die Angewöhner
zu Schmerzen, welche erst erwachsen machen.
Sie bringen Leiden mit in ihrem Lachen,
Sehnsüchte, welche schlafen, und erwachen,
um aufzuweinen in der fremden Brust.
Sie häufen Rätselhaftes an und sterben,
wie Tiere sterben, ohne zu begreifen, -
aber sie werden vielleicht Enkel haben,
in denen ihre grünen Leben reifen;
durch diese wirst du jene Liebe erben,
die sie sich blind und wie im Schlafe gaben.
So fließt der Dinge Überfluss dir zu.
Und wie die obern Becken von Fontänen
beständig überströmen, wie von Strähnen
gelösten Haares, in die tiefste Schale, -
so fällt die Fülle dir in deine Tale,
wenn Dinge und Gedanken übergehn.
Rainer Maria Rilke
18.9.1901, Westerwede
Das XXVIII. Sonett
O komm und geh. Du, fast noch Kind, ergänze
für einen Augenblick die Tanzfigur
zum reinen Sternbild einer jener Tänze,
darin wir die dumpf ordnende Natur
vergänglich übertreffen. Denn sie regte
sich völlig hörend nur, da Orpheus sang.
Du warst noch die von damals her Bewegte
und leicht befremdet, wenn ein Baum sich lang
besann, mit dir nach dem Gehör zu gehn.
Du wusstest noch die Stelle, wo die Leier
sich tönend hob -; die unerhörte Mitte.
Für sie versuchtest du die schönen Schritte
und hofftest, einmal zu der heilen Feier
des Freundes Gang und Antlitz hinzudrehn.
Rainer Maria Rilke
zwischen dem 19. und 23.2.1922, Chateau de Muzot
Zitat der Woche:
11.5. bis 17.5. 2015
NATUR
Mit einer fast somnambulen (schlafwandlerischen)Sicherheit greift die Natur nach dem
was sie braucht und sie findet es immer unter hundert Dingen heraus.
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"Vergessen Sie nie,
das Leben ist eine Herrlichkeit!"
RAINER MARIA RILKE. 1875 bis 1926