Quantcast
Channel: RAINER MARIA RILKE . 1875-1926
Viewing all 751 articles
Browse latest View live

ENGELLIEDER

$
0
0

Rainer Maria Rilke



[ Engel der Hoffnung ]


Carl Heinrich Bloch, Gethsemane.

Nonnen-Klage

                        I 

Herr Jesus - geh, vergleiche
dich irgend einem Mann.
Nun bist du doch der Reiche,
nun hast du Gottes weiche
Herrlichkeiten an.

Die dir erwählt gewesen,
jetzt kostest du sie aus
und kannst mit ihnen lesen
und spielen und Theresen
zeigen dein schönes Haus.

Deine Mutter ist eine Dame
im Himmel geworden, und
ihr gekrönter Name
blüht aus unserm Mund

in diesem Wintergarten,
nach dem du zuweilen siehts,
weil du dir große Arten
aus unseren Stimmen ziehst.

                        II 

Herr Jesus - du hast alle
Frauen, die du nur willst.
Was liegt an meinem Schalle,
ob du ihn nimmst und stillst.

Er verliert sich im Geräusche,
er zerrinnt wie nichts im Raum.
Was du hörst sind andre; täusche
dich nicht: ich reiche kaum

unten aus meinem Herzen
bis in mein Gesicht, das singt.
Ich würde dich gerne schmerzen,
aber mir misslingt

der Wurf, so oft ich mein Weh
werfe nach deinem Bilde;
es fällt von nahe milde
zurück und kalt wie Schnee.

                        III 

Wenn ich draußen stünde,
wo ich begonnen war,
so wären die Nächte Sünde
und der Tag Gefahr.

Es hätte mich einer genommen
und wieder gelassen, und
wäre ein zweiter gekommen
und hätte meinen Mund

verbogen mit seinen Küssen,
und dem dritten hätt ich vielleicht
barfuß folgen müssen
und hätte ihn nie erreicht;

und hätte den vierten nur so
aus Müdigkeit eingelassen,
um irgendwas zu fassen,
um zu liegen irgendwo.

Nun da ich bei keinem schlief,
sag: hab ich nichts begangen?
Wo war ich, während wir sangen?
Wen rief ich, wenn ich dich rief?

                        IV 

Mein Leben ging - Herr Jesus.
Sag mir, Herr Jesus, wohin?
Hast du es kommen sehen?
Bin ich in dir drin?
Bin ich in dir, Herr Jesus?

Denk, so kann es vergehn
mit dem täglichen Schalle.
Am Ende leugnen es alle,
keiner hat es gesehn.
War es das meine, Herr Jesus?

War es wirklich das meine,
Herr Jesus, bist du gewiss?
Ist nicht eine wie eine,
wenn nicht irgend ein Biss
eine Schramme zurücklässt, Herr Jesus?

Kann es nicht sein, dass mein
Leben gar nicht dabei ist?
Dass es wo liegt und entzwei ist,
und der Regen regnet hinein
und steht drin und friert drin, Herr Jesus?

Rainer Maria Rilke
1909, Paris
Gesammelte Werke, Band III


Pietà

So seh ich, Jesus, deine Füße wieder,
die damals eines Jünglings Füße waren,
da ich sie bang entkleidete und wusch;
wie standen sie verwirrt in meinen Haaren
und wie ein weißes Wild im Dornenbusch.

So seh ich deine niegeliebten Glieder
zum erstenmal in dieser Liebesnacht.
Wir legten uns noch nie zusammen nieder,
und nun wird nur bewundert und gewacht.

Doch, siehe, deine Hände sind zerrissen -:
Geliebter, nicht von mir, von meinen Bissen.
Dein Herz steht offen und man kann hinein:
das hätte dürfen nur mein Eingang sein.

Nun bist du müde, und dein müder Mund
hat keine Lust zu meinem wehen Munde -.
O Jesus, Jesus, wann war unsre Stunde?
Wie gehn wir beide wunderlich zugrund.


Rainer Maria Rilke
Mai/Juni 1906, 
Paris



Die Stille

Hörst du Geliebte, ich hebe die Hände - 
hörst du: es rauscht... 
Welche Gebärde der Einsamen fände 
sich nicht von vielen Dingen belauscht? 
Hörst du, Geliebte, ich schließe die Lider 
und auch das ist Geräusch bis zu dir. 
Hörst du, Geliebte, ich hebe sie wieder...... 
... aber warum bist du nicht hier.

Der Abdruck meiner kleinsten Bewegung 
bleibt in der seidenen Stille sichtbar; 
unvernichtbar drückt die geringste Erregung 
in den gespannten Vorhang der Ferne sich ein. 
Auf meinen Atemzügen heben und senken 
die Sterne sich. 
Zu meinen Lippen kommen die Düfte zur Tränke, 
und ich erkenne die Handgelenke 
entfernter Engel. 
Nur die ich denke: Dich 
seh ich nicht. 


Rainer Maria Rilke
1900/01, ?


So viele Engel

So viele Engel suchen dich im Lichte 
und stoßen mit den Stirnen nach den Sternen 
und wollen dich aus jedem Glanze lernen. 
Mir aber ist, sooft ich von dir dichte, 
dass sie mit abgewendetem Gesichte 
von deines Mantels Falten sich entfernen. 

Denn du warst selber nur ein Gast des Golds. 
Nur einer Zeit zuliebe, die dich flehte 
in ihre klaren marmornen Gebete, 
erschienst du wie der König der Komete, 
auf deiner Stirne Strahlenströme stolz. 

Du kehrtest heim, da jene Zeit zerschmolz. 

Ganz dunkel ist dein Mund, von dem ich wehte, 
und deine Hände sind von Ebenholz. 



Rainer Maria Rilke
28.9.1899, 
Berlin-Schmargendorf






*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

ENGELLIEDER

$
0
0

Rainer Maria Rilke


[ Der Engel der Sehnsucht ]



Hinweg, die ich bat, endlich mein Lächeln zu kosten

Hinweg, die ich bat,       endlich mein Lächeln zu kosten
(ob es kein köstliches wäre),
unaufhaltsam genaht       hinter den Sternen im Osten
wartet der Engel, dass ich mich kläre.

Dass ihn kein Spähn, keine Spur       euer beschränke,
wenn er die Lichtung betritt;
sei ihm das Leid, das ich litt,       wilde Natur:
er traue der Tränke.

War ich euch grün oder süß,       lasst uns dass alles vergessen,
sonst überholt uns die Scham.
Ob ich blüh oder büß,       wird er gelassen ermessen,
den ich nicht lockte, der kam . .

Rainer Maria Rilke

Ende 1913, Paris
Gedichte 1906 bis 1926.

Aus: Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte 
aus den mittleren und späten Jahren.



Nächtens will ich mit dem Engel reden

Nächtens will ich mit dem Engel reden,
ob er meine Augen anerkennt.
Wenn er plötzlich fragte: Schaust du Eden?
Und ich müsste sagen: Eden brennt

Meinen Mund will ich zu ihm erheben,
hart wie einer, welcher nicht begehrt.
Und der Engel spräche: Ahnst du Leben?
Und ich müsste sagen: Leben zehrt

Wenn er jene Freude in mir fände,
die in seinem Geiste ewig wird, -
und er hübe sie in seine Hände,
und ich müsste sagen: Freude irrt


Rainer Maria Rilke

25.9.1914, Irschenhausen

Wege mit Rilke, Lou Albert-Lasard. 
Frankfurt/Main 1952.


Die Engel

Sie haben alle müde Münde 
und helle Seelen ohne Saum. 
Und eine Sehnsucht (wie nach Sünde) 
geht ihnen manchmal durch den Traum. 

Fast gleichen sie einander alle; 
in Gottes Gärten schweigen sie, 
wie viele, viele Intervalle 
in seiner Macht und Melodie. 

Nur wenn sie ihre Flügel breiten, 
sind sie die Wecker eines Winds: 
als ginge Gott mit seinen weiten 
Bildhauerhänden durch die Seiten 
im dunklen Buch des Anbeginns. 



Rainer Maria Rilke


22.7.1899, 
Berlin-Schmargendorf


*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

ENGELLIEDER

$
0
0

Rainer Maria Rilke


[ Der Engel der Sehnsucht. Letzter Teil. ]



Du Ewiger

Du Ewiger, du hast dich mir gezeigt. 
Ich liebe dich wie einen lieben Sohn, 
der mich einmal verlassen hat als Kind, 
weil ihn das Schicksal rief auf einen Thron, 
vor dem die Länder alle Täler sind. 
Ich bin zurückgeblieben wie ein Greis, 
der seinen großen Sohn nicht mehr versteht 
und wenig von den neuen Dingen weiß, 
zu welchen seines Samens Wille geht. 
Ich bebe manchmal für dein tiefes Glück, 
das auf so vielen fremden Schiffen fährt, 
ich wünsche manchmal dich in mich zurück, 
in dieses Dunkel, das dich großgenährt. 
Ich bange manchmal, dass du nichtmehr bist, 
wenn ich mich sehr verliere an die Zeit. 
Dann les ich von dir: der Euangelist 
schreibt überall von deiner Ewigkeit. 

Ich bin der Vater; doch der Sohn ist mehr, 
ist alles, was der Vater war, und der, 
der er nicht wurde, wird in jenem groß; 
er ist die Zukunft und die Wiederkehr, 
er ist der Schoß, er ist das Meer... 



Rainer Maria Rilke



18.9.1901, 
Westerwede



Du Dunkelheit

Du Dunkelheit, aus der ich stamme, 
ich liebe dich mehr als die Flamme, 
welche die Welt begrenzt, 

indem sie glänzt 
für irgend einen Kreis, 
aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß. 

Aber die Dunkelheit hält alles an sich: 
Gestalten und Flammen, Tiere und mich, 
wie sie's errafft, 
Menschen und Mächte - 

Und es kann sein: eine große Kraft 
rührt sich in meiner Nachbarschaft. 

Ich glaube an Nächte. 



Rainer Maria Rilke



22.9.1899, 
Berlin-Schmargendorf









*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Begegnung in der Kastanien Allee

$
0
0

Rainer Maria Rilke




GEDICHTE & KUNST

Vincent van Gogh, Kastanien Allee, rote Kastanien im öffentlichen Park in Arles.


Begegnung in der Kastanien-Allee

Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit
kühl wie ein Seidenmantel umgegeben
den er noch nahm und ordnete: als eben
am andern transparenten Ende, weit,
aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben,
weiß eine einzelne Gestalt
aufleuchtete, um lange fern zu bleiben
und schließlich, von dem Lichterniedertreiben
bei jedem Schritte überwallt,
ein helles Wechseln auf sich herzutragen,
das scheu im Blond nach hinten lief.
Aber auf einmal war der Schatten tief,
und nahe Augen lagen aufgeschlagen
in einem neuen deutlichen Gesicht,
das wie in einem Bildnis verweilte
in dem Moment, da man sich wieder teilte:
erst war es immer, und dann war es nicht


Rainer Maria Rilke

Aus : "Der neuen Gedichte anderer Teil"
Es ist im Sommer 1908 in Paris entstanden
und nimmt Pariser Eindrücke







*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Einmal nahm ich ....

$
0
0

Rainer Maria Rilke




Einmal nahm ich

Einmal nahm ich zwischen meine Hände 
dein Gesicht. Der Mond fiel darauf ein. 
Unbegreiflichster der Gegenstände 
unter überfließendem Gewein. 

Wie ein williges, das still besteht, 
beinah war es wie ein Ding zu halten. 
Und doch war kein Wesen in der kalten 
Nacht, das mir unendlicher entgeht. 

O da strömen wir zu diesen Stellen, 
drängen in die kleine Oberfläche 
alle Wellen unsres Herzens, 
Lust und Schwäche, 
und wem halten wir sie schließlich hin? 

Ach dem Fremden, der uns missverstanden, 
ach dem andern, den wir niemals fanden, 
denen Knechten, die uns banden, 
Frühlingswinden, die damit entschwanden, 
und der Stille, der Verliererin. 


Rainer Maria Rilke

Ende 1913, Paris
Gedichte 1906 bis 1926.
Aus: Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte
aus den mittleren und späten Jahren.








*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Als du mich einst gefunden hast ....

$
0
0

Rainer Maria Rilke





Als du mich einst gefunden hast,
da war ich klein, so klein,
und blühte wie ein Lindenast
nur still in dich hinein.

Vor Kleinheit war ich namenlos
und sehnte mich so hin,
bis du mir sagst, dass ich zu groß
für jeden Namen bin:

Da fühl ich, dass ich eines bin
mit Mythe, Mai und Meer,
und wie der Duft des Weines bin
ich deiner Seele schwer...




Rainer Maria Rilke

18.2.1898, 
Berlin-Schmargendorf



*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

FRÜHLING

$
0
0

Rainer Maria Rilke



GEDICHTE & KUNST.

Ferdinand Hodler, Kirschbaum in Blüte. 1905




Soll ich noch einmal Frühling haben

Soll ich noch einmal Frühling haben, noch einmal
dieses Erdreichs nahe gesicherte Zukunft
nehmen wie eigenes Los? O reineres Schicksal


Rainer Maria Rilke

Februar 1912, Duino
Gedichte 1906 bis 1926.

Aus: Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte 
aus den mittleren und späten Jahren.



Aus einem Frühling

(Paris)

O alle diese Toten des April,
der Fuhren Schwärze, die sie weiterbringen
durch das erregte übertriebene Licht:
als lehnte sich noch einmal das Gewicht
gegen zuviel Leichtwerden in den Dingen
mürrischer auf.... Da aber gehen schon,
die gestern noch die Kinderschürzen hatten,
erstaunt erwachsen zur Konfirmation;
ihr Weiß ist eifrig wie vor Gottes Thron
und mildert sich im ersten Ulmenschatten.


Rainer Maria Rilke

April 1913, Paris
Gesammelte Werke, Band III








*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Christus, Elf Visionen

$
0
0

Rainer Maria Rilke




Der blinde Knabe

An allen Türen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter bleiche Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe."
Und alle weinten über ihn.

An allen Türen blieb der blinde Knabe.

Die Mutter aber zog ihn leise mit;
weil sie die andern alle weinen schaute.
Er aber, der nicht wußte, wie sie litt,
und nur noch tiefer seinem Dunkel traute,
sang: "Alles Leben ist in meiner Laute."

Die Mutter aber zog ihn leise mit.

So trug er seine Lieder durch das Land.
Und als ein Greis ihn fragte, was sie deuten,
da schwieg er, und auf seiner Stirne stand:
Es sind die Funken, die die Stürme streuten,
doch einmal werd ich breit sein wie ein Brand.

So trug er seine Lieder durch das Land.

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.
Sie mußten immer an den Blinden denken
und wollten etwas seiner Armut weihn;
er nahm sie lächelnd an den Handgelenken
und sang: "Ich selbst bin kommen euch beschenken."

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.

Und alle Mädchen wurden blaß und bang.
Und waren wie die Mutter dieses Knaben,
der immer noch in ihren Nächten sang.
Und fürchteten: wir werden Kinder haben, -
und alle Mütter waren krank..

Da wurden ihre Wünsche wie ein Wort
und flatterten wie Schwalben um die Eine,
die mit dem Blinden zog von Ort zu Ort:
"Maria, du Reine,
sieh, wie ich weine.
Und es ist seine
Schuld. In die Haine
führ ihn fort!"

Bei allen Bäumen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter müde Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe -"
Und alle blühten über ihm.

Rainer Maria Rilke


{Eine der drei Versionen der Zweiten Folge}
Die Kirche von Nago | Der Blinde Knabe | Die Nonne |


[ Einige Erklärungen folgen ]

*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Vorgefühl

Der Fremde

$
0
0

Rainer Maria Rilke



Rainer Maria Rilke in Muzot


Der Fremde

Ohne Sorgfalt, was die Nächsten dächten, 
die er müde nichtmehr fragen hieß, 
ging er wieder fort; verlor, verließ -. 
Denn er hing an solchen Reisenächten 

anders als an jeder Liebesnacht. 
Wunderbare hatte er durchwacht, 
die mit starken Sternen überzogen 
enge Fernen auseinanderbogen 
und sich wandelten wie eine Schlacht; 

andre, die mit in den Mond gestreuten 
Dörfern, wie mit hingehaltnen Beuten, 
sich ergaben, oder durch geschonte 
Parke graue Edelsitze zeigten, 
die er gerne in dem hingeneigten 
Haupte einen Augenblick bewohnte, 
tiefer wissend, dass man nirgends bleibt; 
und schon sah er bei dem nächsten Biegen 
wieder Wege, Brücken, Länder liegen 
bis an Städte, die man übertreibt. 

Und dies alles immer unbegehrend 
hinzulassen, schien ihm mehr als seines 
Lebens Lust, Besitz und Ruhm. 
Doch auf fremden Plätzen war ihm eines 
täglich ausgetretnen Brunnensteines 
Mulde manchmal wie ein Eigentum. 


Rainer Maria Rilke

Frühsommer 1908,
Paris





*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Christus, Elf Visionen

$
0
0

Rainer Maria Rilke




Der Maler

Die alte Standuhr, von dem Zwölfuhrschlagen
noch immer müde, rief das "Eins" so weh,
daß er zusammenzuckte und den Kragen
schnell um der Kleinen Schultern schmiegte: "Geh!"
Sie sah erstaunt ihn an beim Abschiedsagen
und bangte immer wieder mit der zagen
versagten Stimme, kinderklug: "Wann seh
ich dich denn wieder?""Nun - in diesen Tagen,
geh, du bist lästig mit dem vielen Fragen."
Sie rief und fror und draußen fiel der Schnee. - 

Er aber trat zurück ins Atelier
und ging mit stillen Schritten in dem kühlern
vertrauten Raume her und hin.
Das leise Licht, das wie mit feinen Fühlern
ins stumme Dunkel suchte vom Kamin,
erweckte da und dort ein Ding zum Leben,
das seltsam fremd in heimlichem Erheben
sich formte in der kurzen Gunst des Lichts.
In weichem Wechseln wogte Sein und  Nichts
rings um den Mann, der sinnenden Gesichts
sich ganz verlor im scheuen Schattentreiben,
bis er, wie hart vor einem Hindernis,
den Fenstervorhang von den Riesenscheiben,
fortzerrte, daß die Seide zischend riß.
Und da im Mond - die Dinge durften bleiben -
da blieb auch der , den er im Schatten schon
mit allen Sinnen seines Seins erkannte,
obwohl er nicht das Antlitz zu ihm wandte
und reglos auf die große weitgespannte
Bildleinwand schaute, drauf mit mattem Ton
der Silbermond die Winterlichter streute.
Sie sanken mitten in die Männermeute,
die einen Mann umdrängte und umdräute,
der blaß und ärmer wie die andern war.
Er stand wie ein Verräter in der Schar,
stand wie ein Leugner, den die Liebe reute,
und ohne alle Hoheit war sein Haar.
Und seine Würde war wie ein Talar
von seiner Brust gesunken, und es scheute
ein Kinderschwarm sich vor dem Proletar...

Auf diesem Bilde jetzt die fremden Lichte
schien ein Geschenk zu sein von dem Gesichte
des Mannes, den der Maler davor fand;
in kalte Kanten krallte er die Hand,
und hingehetzt von hundert Ängsten floh
die Seele ihm mit feigem Flügelbreiten
zu allen Hoffnungen und Heimlichkeiten
und wähnt: sie wird bei einer  die bereiten
Fluchtfenster finden in das Nirgendwo.
Doch eh sie noch zurückgefunden, - gleiten
des Bleichen Blicke von dem Bild und leiten
das leise Wort: "Warum malst du mich so?"
"Bin ich denn so an deinem Bett gesessen,
wenn deine Furcht aus Kinderfiebern schrie,
und in dem Mahnen der Marienmessen -
war das die Miene, die dir Mut verlieh?
Und dann - am Grabe deiner Mutter - wie
entstieg ich da den zitternden Zypressen?
Hast du im Weiterschreiten mich vergessen,
und meine Züge, warum malst du sie?"
Sein Fragen senkte sich so frühlingsstill,
wie eine frühe Blüte sinkt vom Baume
die heil in Halmen harrt, ob tief im Traume
ein lieber Wind sie spielend wählen will, -
allein der Maler, scheu von Scham und Schuld,
zertritt die zarte mit der Ungeduld
des bangen Sklaven. Und sein Haß hält roh
die Faust ihm hin: "Ich sah dich immer  so."
Und da wächst der, der wie ein Büßer stand,
weit auf. Sein Schatten hüllt die ganze Wand,
und seine Stimme schwillt wie eine Flamme:

"So schien ich dir aus diesem Bettlerstamme?
Die zage, blasse Armut war mir Amme,
und drum glaubst du: es ist die Schergenschramme
auf meiner Brust mein einzig Purpurrecht?
Ich trank mir nicht den Adel aus dem Schwamme,
als König kürte ich mir ein Geschlecht,
und erst im Sterben ward ich Knecht.
Da ward ich - Gott. Und nur der niegewußte
Gott könnte groß sein, der nicht folgen mußte
dem ungestümen Ruf der Menge, die
ihn brünstig brauchte. Doch in wahngeblähter
Beharrlichkeit langt früher oder später
der Pöbel alle Götter aus dem Äther,
und in den bangen Blicken ihrer Beter
zerschmelzen sie."

Es schwand in Schwaden sein weißes Kleid,
es ging keine Pforte.
Aber der Maler hörte noch Worte, -
milde Worte wehten von weit
nicht aus der Zeit:
"... In gleichem Harm und in gleichen Hemden
will ich frierend mit Freunden gehn,
aber vor den Seelenfremden
will ich festlich und fürstlich stehn:
Mal mich im Purpur dieses Blutes,
das wund von Wehen und Wundern war,
und mit der Mitra meines Mutes
hülle mir mein armes Haar.
Und alles Leuchten der Liebe - legs
an den Rand meiner Hände,
daß ich den Himmel ganz verschwende
an alle Kinder - unterwegs...."

Rainer Maria Rilke


{Eine der 8 Versionen der ersten Folge}


[ Einige Erklärungen folgen ]

*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Wir lächeln leis im Abendwind

$
0
0

Rainer Maria Rilke





Caspar David Friedrich, 1774 bis 1840, (D) Der Abend.



Wir lächeln leis im Abendwind,
Wenn sich die Blumen schwankend küssen
Und wenn die Vögel müde sind.
Weil wir nicht mit der Sonne müssen,
Die breit auf flachen Abendflüssen
Aus unsern Wiesentalen rinnt.

Wir bleiben und wir sehn die Nacht
Aufwachsen weit und Wunder werden,
Sehn Berge Bilder und Gebärden
Viel größer als wir je gedacht.
Sehn was die Blüten nicht ertrügen,
Was Vögel erst nach langen Flügen
Erreichen würden stellt sich nah
Und was am Morgen schon erstarrt
In Stille ist und Gegenwart,
Wir kannten es, als es geschah....

Rainer Maria Rilke






*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

CHRISTUS,ELF VISIONEN:

$
0
0

Rainer Maria Rilke




Der Narr

Der Turm ruft in gewohnter Pose
den Mittag aus. Ins Sommerglühn
prallt schon die Kinderschar, die lose,
heraus vom Schulbankplattengrün:
So brechen wohl nach bangem Mühn
gefangne Falter freiheitskühn
aus dumpfer, grüner Forscherdose
und suchen eine rote Rose
und schwärmen werbend um ihr Blühn. -
Die Buben bilden kleine Truppen,
es wird gerauft, es wird marschiert,
wenn hurtig zu der Mutter Suppen
auch schon so mancher desertiert.
Die Mädel aber stehn wie Puppen
im Auslagfenster des Bazars
beisamm in bunten Plaudergruppen.
Und wagt ein Kleiner sie zu stuppen
am Zopfbandzipfel ihres Haars,
dann wenden sie sich: Welcher wars?
Und meistens flieht der junge Mars
vor ihrem Zürnen um die Ecke.
Und bei Geplauder und Genecke
verflattert mählich erst der Schwarm. -
Die kleine Anna, blond und arm,
packt jetzt als ob sie was entdecke
die nächste Freundin wie im Schrecke
und weist scheu flüsternd nach der Hecke
und ruft dann etwas. Wie Alarm
fährts in die Schar; der ganze Haufen
zerstiebt. Ein Stoßen und ein Laufen,
ein Wortgewirr, ein Stimmgeschnarr:
"Der Narr." 

"Kinder!"
Und geschwinder
stürzt er herbei.
Ins Geschrei.
"Halt."
Seine hohe Gestalt
mit dem blassen Gesicht
ist immer dicht
hinter der Flucht.
Er sucht.
Mit den gekrallten
sehnenden Händen,
mit den kalten
Augen, die blenden,
will er sie halten,
will er sie wenden.
Flatternd in Falten
wallt er um die Lenden
der Mantel. Die Lode
hemmt ihm die Flucht.
Bleich wie im Tode
steht er und sucht.
Und die Kinder entsetzt
und in Hitze gehetzt
hasten vorbei.
Auch Anna. Und jetzt,
er schaut sie - ein Schrei.
Er bricht durch die Reih
und faßt sie und fetzt
ihr das Kleidchen entzwei:
"Steh!"
Und dem armen Kind ist zum Sterben weh.
Rings schaut es nach Hilfe. Doch schreckenjäh
ist der Schwarm in den Gassen und Gärten zerstoben.
Und bebend hebt sie die Augen nach oben
bang und beklemmt.
Hat er ein Wunder getan?
Sie staunt ihn an:
die Augen des Fremden sind ihr nicht fremd.
Und es überkommt sie ein großes Vertraun.
Ihr ist: als wär sie lang krank gewesen,
hätt müssen zur dumpfigen Decke schaun
und dürfte des lachenden Blicks Genesen
zum Himmel nun heben, zum maitagblaun.
Sie fühlt: er läßt seine Rechte sinken
auf ihren Scheitel und kost ihn still,
und sie hascht wie im Traum nach der fiebernden Linken,
weil sie sie küssen will....
Doch die Hand entflieht ihr hastig und heiß,
auf die langenden Händchen fällt eine Träne,
und die fremden Lippen fragen sie leis:
"Heißt deine Mutter nicht Magdalene?"
"Ja."
Und die fremden Lippen fragen so warm:
"Ist sie sehr arm?"
"Ja."
Und Lippen klingen wie Glockenerz:
"Hat sie viel Schmerz?"
"Ja.
Weil ich sie oft tief in der späten
Nacht noch sitzen und weinen sah."
"Kannst du auch beten?"
"Ja."
"Betest du denn auch für deinen Papa?"
"Ja."
"Tu`s."
"Aber wo ist mein Papa... weißt du`s?"
Und da hebt der Fremde das Kind empor.
Seine Stimme ist wie ein Vogelchor
der sich tief in erblühtem Jasmin verlor:
"Sag mir einmal das Wort noch vor!"
"Was?"
"Das."
"Papa?"
"Ja."
Und sein Ja ist ein jubelnder Siegessang.
Er küßt dem Kinde die Stirne lang,
er küßt dem Kinde die Augen blank;
sein Kuß ist Liebe, sein Kuß ist Dank.
Und er stellt das Kind wieder leis auf die Steine
und spricht: "Ich kann dir nichts geben, Kleine -"
Ein müdes Lächeln nur wirft er ihm zu:
"Ich bin ja viel ärmer als du...."
Es war ein Weinen, wie er das  sprach.
Und er winkt noch einmal leis mit der Hand
und geht. Er geht durch das heiße Land
wie ein Bettler im schlotternden Lodengewand
und doch wie ein König so stolz und groß.
Und sie haben ihn immer "der Narr" genannt.
Und Anna steht lange, wie traumgebannt
staunt sie ihm nach,
dann stürmt sie nach Hause atemlos. -

Der Mutter Alles zu sagen, sie scheuts.
Doch plötzlich sagt sie beim Schlafengehn:
"Du, Mutter, ich hab einen Mann gesehn,
der war - wie der Mann am Kreuz...."

Rainer Maria Rilke

1896

{Eine der 8 Versionen der ersten Folge} 


[ Einige Erklärungen folgen ]

*
RAINER MARIA RILKE. 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Ich finde dich in allen diesen Dingen ....

CHRISTUS, Elf Visionen

$
0
0

Rainer Maria Rilke




Fritz von Uhde, Lasset die Kindlein zu mir kommen. 1883




Die Kinder

Das war
ein Mann inmitten einer Kinderschar.
Schlicht um die Schultern lag ihm der Talar,
und heimathell war ihm das Heilandshaar.
Und wie um einen frühen Frühlingstag
sich, jäherwacht, die Blüten staunend scharen,
so kamen Kinder zu dem Wunderbaren,
den keiner von den Alten nennen mag.
Die Kinder aber kennen ihn schon lang
und drängen in das offene Tor der Arme -
ein blasses betet: Du bist das "Erbarme",
nach dem die Mutter ihre Hände rang.
Und leise flüstert ihm das wangenwarme:
"Nichtwahr, du wohnst im Sonnenuntergang,
dort wo die Berge groß und golden sind.
Dir winkt der Wipfel und dir singt der Wind,
und guten Kindern kommst du in die Träume."
Da neigen alle sich wie Birkenbäume.
Es neigen sich die Blonden und die Braunen
vor seinem Lächeln, und die Alten staunen.
Und Kinder flüchten sich von allen Seiten
in seinen Segen heim wie in ein Haus,
und lauschen alle. Seine Worte breiten
weit über sie die weißen Flügel aus:

"Hat einmal eins von euch schon nachgedacht,
wie eilig euch die leisen Stunden führen
an jedem Tag und in jeder Nacht
durch tausend Tore und durch tausend Türen.
Noch gehn die Angeln alle leicht und leise
und alle Pforten fallen scheu ins Schloß;
noch bin ich Warner euch und Weggenoß,
doch weit aus meinen Reichen reift die Reise.
Ihr wollt ins Leben, und das bin ich nicht,
ihr müßt ins Dunkel, und ich bin das Licht,
ihr hofft die Freude, ich bin der Verzicht,
ihr sehnt das Glück und - ich bin das Gericht."
Er schwieg. Von ferne horchten auch die Großen.
Dann seufzte er: "Ihr müßt mich nicht verstoßen,
wenn wir zusammen an den Marken stehn.
Mich mitzunehmen seid ihr dann zu jung;
doch schaut ihr mal zurück von euren Fahrten
vielleicht in einen armen Blumengarten,
vielleicht ins Mutterlächeln einer zarten
versehnten Frau, vielleicht in ein Erwarten:
Ich bin die Kindheit, die Erinnerung.
Gebt mir die Hand, schenkt mir (im) Weitergehn
noch einen Blick, der schon ins Leben tauchte,
aus dem der neue und noch niegebrauchte
Gott seine Hände euch entgegenhält.
Ihr dürft hinaus. Es wartet eine Welt."

Sie horchten hastig seinem Verheißen,
ihre Wangen waren so warm:
"Werden wir an den Türen reißen?!"
ruft ein wilder Kleiner im Schwarm.
Und da bettelt er bang: "Du führe
schnell uns weiter durch Wasser und Wald,
und die große, die letzte Türe 
kommt sie dann bald?"

So an dem Glück, das der Meister verkündet,
haben sich hell seine Augen entzündet,
und er blüht in der Sonne auf.
Aber da hebt sich aus horchendem Hauf
einsam ein Kleiner, ihm weht das verworrne
welkende Haar um die Stirne gebläht
wie die zerrissene Zier überm Zorne
eines Helmes weht.
Seine Stimme flattert und fleht:
"Du!" er klammert um seine Knie
bange die armen hungernden Hände -
"Solche Worte vom ewigen Ende
sagtest Du nie!
Wenn die andern undankbaren
weiter wollen zu jagenden Jahren -
ich bin anders, anders wie sie!"
Und er umklammert im Krampfe die Knie. -

Und die Lippen des Lichten erbeben,
und er neigt sich dem Weinenden leise:
"Giebt die Mutter dir Spiel und Speise?"
Da schluchzt ihm der Knab in den Schooß:
"Zum Spielen bin ich zu groß."
"Bringt sie dir morgens ins Stübchen
deine Brühe warm?"
Da bebt das bangende Bübchen:
"Bin zum Essen zu arm."
"Küßt sie dir nie die Wange
mit ihrer Liebe rot?"
Da gesteht er: "Lange, lange
ist mir Mutter tot."...
Und die Lippen des Lichten erbeben
wie Blätter im herbstlichen Hain:
"Oh dann warst du schon draußen im Leben,
und wir können beisammen sein."


Rainer Maria Rilke


{Eine der 8 Versionen der ersten Folge} 

[ Einige Erklärungen folgen, hier zum Beispiel: ]


Der Maler

FRITZ von UHDE
1848 bis 1911

Rainer Maria Rilke besucht Fritz von Uhde in seinem Atelier und bewundert 
die Kinderbilder und die "Himmelfahrt" -er hatte damals ein langes Gespräch 
mit dem Künstler. Das Stück  "Die Kinder", eine der "Christusvisionen", 
enthält in der ersten Fassung einen deutlichen Hinweis auf  Fritz vonUhde: 

"Er hat einmal ein Bild gemalt .... " und das beeindruckte den Kunstkenner Rilke sehr, mit oben stehenden Ergebnis zu den Christusvisionen. Den Entschluss zu Christus, Elf Visionen hatte er aber schon früher.  Es begann mit der Niederschrift seiner Traumepen -
Christus, Elf Visionen.




*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Der Schauende ....

CHRISTUS, Elf Visionen

$
0
0

Rainer Maria Rilke



Die Kirche von Nago

Diese Dörfer sind arm und klein;
du kommst nirgends hinaus und hinein,
nur ein paar Hütten, die dir begegnen
mitten im Mai.
Willst du sie segnen?
Sie sind schon vorbei.
Aber vor dir  die Kirche steht
ragend im Abend höher oben
als hätte die Erde selber gehoben
aus kleinen Hütten ein großes Gebet.
Aber es muß schon lange sein
seit dies geschah:
vom Kreuzturm stürzte die Stange ein,
die Glocke schlief überm Klange ein -
niemand war da.
Haben im Dorf wohl das Beten vergessen -
oder beten sie anderswo?
Sie denken: ohne die teuern Messen
geht das Sterben auch so.
Und lassen es über die Reben regnen
und lassen es über die Rosen scheinen
und vergessen das Lachen und kennen kein Weinen
und sind doch die Deinen:
Willst du sie segnen?

Du willst erst in deiner Kirche ruhn
und dann zurück zu den seltsam Frommen
hell von dämmernden Hängen kommen
und Wunder tun.
Weißt du schon, wie du dann ihr Weh 
wirst bedenken?
Wirst du die Jungen aus den Gesenken
noch vor Tag auf den Hügel lenken
und von dort ihrem Schauen schenken
den Gardasee?
Wirst du die Berge gleich Riesenpfühlen
näher rücken um dieses Tal,
daß die Alten mit einem Mal
sich heimlicher fühlen?
Denn du hast Mächte und Möglichkeiten
und die Dinge, die du rufst
werden dich wie einen König begleiten
und dir willige Brücken breiten
über die Meere, die du schufst. -
Aber heute bist du schon matt. Und dein Kleid
ist bestaubt.
Staubig dein Haupt.
Kommst du von weit?

Er sagt: "Mein Weg ist von Meer zu Meer.
Ich bin her
aus dem fernen Gestern
gekommen.
Und weiß nicht wie.
Meine Leiden, die weißen Schwestern
haben mich in die Mitte genommen...
Jetzt weinen sie."
Er schwieg.
Und ich hörte sie wirklich weinen
und sah, wie er zwischen steilen Steinen
langsam zu seiner Kirche stieg.
So war kein Sieg.
Das war die Heimkehr eines Ermatteten,
der viel geirrt,
und niemehr Hirt
und dunkel aller Beschatteten
Bruder wird.
Aber noch steht ihm das Haus,
in welches ihr Beten
lange alle die Armen gebracht;
und wenn er es findet, wird es ihm Macht,
und er wird wie im Traum im fürstlicher Tracht
erwacht
nach raschem Ruhn
heraus
aus Trümmern treten
und Wunder tun.

Der Müde oben tritt tastend ein.
Die Kirche ist schwarz, und das Dunkel ist klein
und wird erst langsam den Blicken weit.
Der Einsame bringt die Ewigkeit
mit in die Mauern und breitet sie aus
mit segnenden Händen -
Da durchweht von den Wänden
lebendige Wärme das Haus.
Und jetzt erst erkennt er: die Kirche log.
Wo der Altar war, da ist neu
eine Krippe gezimmert: Scheu
umdrängen drei Kühe den Trog,
und heufeucht duftet die Streu.
Und die Ewigkeit, die er ausgespannt,
reicht nicht einmal von Wand zu Wand,
wird eine ängstliche Ewigkeit:
denn das Land ist breit.
Und der Bleiche bleibt einsam an seinem Rand,
bleibt knien.
Und es weht wie aus einer Wiege warm
um ihn.
Und er ist wie ein König aus Morgenland -
nur ganz arm.

Rainer Maria Rilke


{Eine der drei Versionen der Zweiten Folge}
Die Kirche von Nago | Der Blinde Knabe | Die Nonne |


[ Einige Erklärungen folgen ]
Hier aus: Christus Elf Visionen (Zoppot, Juli 1898)

*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Nenn ich Dich Aufgang ?

$
0
0

Rainer Maria Rilke




***



***

YouTube




Nenn ich dich Aufgang oder Untergang


Nenn ich dich Aufgang oder Untergang?
Denn manchmal bin ich vor dem Morgen bang
und greife scheu nach seiner Rosen Röte -
und ahne eine Angst in seiner Flöte
vor Tagen, welche liedlos sind und lang.

Aber die Abende sind mild und mein,
von meinem Schauen sind sie still beschienen;
in meinem Armen schlafen Wälder ein, -
und ich bin selbst das Klingen über ihnen,
und mit dem Dunkel in den Violinen
verwandt durch all mein Dunkelsein.




Rainer Maria Rilke
2.2.1898,
 Berlin.





*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

CHRISTUS, Elf Visionen.

$
0
0

Rainer Maria Rilke



Die Nacht

Nach Mitternacht ists. Dunkle Stunden gängeln
die Letzten heimwärts längs der Häuserreih.-
Nur im verrauchten Saale "Zu den Engeln"
auf dem verschoßnen Samtsitz lehnen Zwei.
Er und ein Weib. Und gelbe Kellner bengeln
müd, mürrisch mahnend an dem Tisch vorbei.
Ein Piccolo hockt an des Saales Ende
auf steilem Stuhle ganz von Schlaf verschneit.
Nur da und dort glühn trübe Lampenbrände,
in Rauch und Dämmer lösen sich die Wände,
und langsam durch die Wanduhr tropft die Zeit.-
Das Weib neigt sich zu dem Gefährten. Weit
giert aus dem wellengrellen Seidenkleid
die Sinnenhast der ewig kalten Hände:
"Was bist du denn so traurig fort, du, Blasser?
Ich glaube gar du bist ein Menschenhasser?
Schau, - ich bin schön und wir sind ganz allein...
Die Schönheit! Prosit! Aber - du - mit Wasser?..."
Und sie erweckt ein Echo: "Kellner, Wein!"
"Nein, du, ich will nicht trinken", wehrt er ernst.
"Geh, Lieber, spare deine weisen Worte.
Willst du auch jetzt noch nicht? Schau her: die Sorte
Champagner! Schau! Ich wette daß du`s lernst.
Bist du kein Freund von solchen Bacchanalen?
Schau dieses Perlenkämpfen, wie das schäumt,
schau dieses Perlendämpfen, wie sichs bäumt:
Das ist der Weihrauch unsrer Kathedralen,
der prickelnd sickert aus opalnen Schalen!
Trink jetzt! Die Liebe lebe! ..Ausgeträumt!-" 
Und sie schlürft tief das Schaumgold des Pokals
und läßt ihn, leer, im roten Schimmer blinken,
und löst dann leise mit der weißen Linken
die schweren Falten ihres Schultershawls.
Und wie wenn sacht des Meeres Wellen sinken
und aus der Flut im Glanz des Mainachtstrahls
die Inseln tauchen mit den Silberzinken,
so schimmert jetzt im Wogenqualm des Saals
ihr Marmorhals. Und ihre Hände winken
dem blassen Nachbar, suchend sehnsuchtleis.
"Komm!" lispelt sie "und willst du ewig säumen?"
Sie neigt sich näher und ihr Wort ist heiß:
"Noch bist du jung! Komm, sei kein Tor! ich weiß
was Beßres, als das Leben dumpf verträumen:
das Leben leben! Nimm dir deinen Preis."
Da packt es ihn, den neidlos, freudlos Kalten,
und ganz im Bann verhaltener Gewalten
wird alle Kraft in seiner Seele frei.
Er faßt das Weib mit einem wilden Schrei
und seine Finger krallt er in die Falten,
und gleißend reißt das Seidenkleid entzwei.
Die irren Hände wuchten schwer wie Blei,
als wollt er aus dem Leib sich neu gestalten
ein Götterbild, das seiner würdig sei.
Um ihre Glieder brandet Raserei.
So stürmt der Sturzbach, den das Eis gehalten,
aus seiner dumpfen Dämmerschlucht herbei
und springt und ringt und greift in alle Spalten
und seine Liebe tötet fast den Mai.
Mit wildem Griff zerrt er den Vorhang zu,
und in der Luft sind nur die süßen Klagen,
die wie ein Jubel klingen aus den Tagen,
da keiner noch in schäumigem Getu
der Glieder Kraft in Fetzen eingeschlagen,
und jeder Wunsch war damals noch ein Wagen.-
Da fährt der blasse Mann aus schlaffer Ruh
und raunt dem müden Weibe glühend: "Du,"
er lauscht umher -, "ich muß dir etwas sagen.
Sie kamen einst mich bei Gericht verklagen.
Der Richter rief. Das war ein seltsam Fragen:
Ich hörs noch immer: Bist du Gottes Sohn?      
Ich kann nicht mehr begreifen dieses Sinns,
doch damals ließ ich schelten mich und schlagen
und dachte, aufgehetzt durch ihren Hohn,
es muß mein Stolz bis an die Sterne ragen.
Ich schrie sie an: Was wollt ihr? Ja, ich bins.
Zu meines Vaters Rechten ist mein Thron!
Was lachst du, Weib? So spei mir ins Gesicht,
ich weiß es, ich verdiene deinen Spott.
Und meine Reue. Nein, ich bin es nicht,
ich bin kein Gott!..."
                            "Du kannst nicht viel vertragen,
mein Lieber. Welch ein drolliges Gegirr.
Kaum wirbelt noch ein Glas dir aus dem Magen
zu Herz und Hirn, schon sprichst du wahn und wirr.-
Nein, nein, du bist nicht Gott, mach dir nicht Sorgen,
und niemand wird dich so verklagen. Nein.
Doch wart du Blasser, bis zum nächsten Morgen
sollst du ein wenig König sein.
Ja, willst du? Wart, ich werde wenn mirs glückt
aus diesen Rosen dir die Krone schmieden.
Und sind sie nicht mehr frisch, gieb dich zufrieden,
mein hoher Herr, du hast sie selbst zerdrückt.."-
Und ihre Finger fügen jetzt geschickt
zu krausem Kranze Rose an um Rose,
auch welke Blätter sind hineingestickt.
Sie legt ihn auf das Haupt, das regungslose
aus leeren Augen ihr entgegenblickt,
dann klatscht sie in die Hände, lacht und nickt:
"Bravissimo, die echte Königspose!"

Schon kommt der Morgen nach den Scheiben zielen;
die ersten Speere stecken in den Dielen
hell, wie sie just durchs fahle Fenster fielen.
Und gegenüber schmilzt schon auf dem Dach
die Dämmerung. Da gähnt das Weib sich wach
und steckt das Kleid sich auf, das Gierde jach
ihr von der Schulter riß. Dann denkt sie nach
und friert und gähnt: "Willst du noch König spielen?"
Sie zerrt ihn auf  und murmelt: "Toller Tropf,
willst du mit deiner Krone auf dem Kopf
bei Tage heut nach Haus spazieren gehn?"
Er starrt sie an und kann sie nicht verstehn.
Da streift sie ihm mit mürrischem Gebaren
den dürren Herbstkranz aus den schwarzen Haaren.
Er starrt sie an - und weint, wie von der Stirne
die letzte morgenwelke Rose fällt:
"Wir sind der ewge Erbfluch dieser Welt:
Der ewige Wahn ich - du die ewige Dirne." -

Rainer Maria Rilke




{Eine der 8 Versionen der ersten Folge} 

[ Einige Erklärungen folgen. ]







*
Rainer Maria Rilke . 1875-1926



QUOD VERUM TUTUM ▪ Maison Courtenay
Mehr von Rilke immer unter : Mit Rilke durch das Jahr.
Rainer Maria Rilke auch bei Google Currents und Google Kiosk!

Abend

Viewing all 751 articles
Browse latest View live