Rainer Maria Rilke - Die Sonette an Orpheus
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Charles François Jalabert, Nymphs Listening to the Songs of Orpheus |
Erster Teil
Das V. Sonett
Errichtet keinen Denkstein. Lasst die Rose
nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.
Denn Orpheus ists. Seine Metamorphose
in dem und dem. Wir sollen uns nicht mühn
um andre Namen. Ein für alle Male
ists Orpheus, wenn es singt. Er kommt und geht.
Ists nicht schon viel, wenn er die Rosenschale
um ein paar Tage manchmal übersteht?
O wie er schwinden muss, dass ihrs begrifft!
Und wenn ihm selbst auch bangte, dass er schwände.
Indem sein Wort das Hiersein übertrifft,
ist er schon dort, wohin ihrs nicht begleitet.
Der Leier Gitter zwangt ihm nicht die Hände.
Und er gehorcht, indem er überschreitet.
Rainer Maria Rilke,
zwischen dem 2. und 5.2.1922,
Chateau de Muzot
Das VI. Sonett
Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden
Reichen erwuchs seine weite Natur.
Kundiger böge die Zweige der Weiden,
wer die Wurzeln der Weiden erfuhr.
Geht ihr zu Bette, so lasst auf dem Tische
Brot nicht und Milch nicht; die Toten ziehts -.
Aber er, der Beschwörende, mische
unter der Milde des Augenlids
ihre Erscheinung in alles Geschaute;
und der Zauber von Erdrauch und Raute
sei ihm so wahr wie der klarste Bezug.
Nichts kann das gültige Bild ihm verschlimmern;
sei es aus Gräbern, sei es aus Zimmern,
rühme er Fingerring, Spange und Krug.
Rainer Maria Rilke,
zwischen dem 2. und 5.2.1922,
Chateau de Muzot
Das VII. Sonett
Rühmen, das ists! Ein zum Rühmen Bestellter,
ging er hervor wie das Erz aus des Steins
Schweigen. Sein Herz, o vergängliche Kelter
eines den Menschen unendlichen Weins.
Nie versagt ihm die Stimme am Staube,
wenn ihn das göttliche Beispiel ergreift.
Alles wird Weinberg, alles wird Traube,
in seinem fühlenden Süden gereift.
Nicht in den Grüften der Könige Moder
straft ihm die Rühmung lügen, oder
dass von den Göttern ein Schatten fällt.
Er ist einer der bleibenden Boten,
der noch weit in die Türen der Toten
Schalen mit rühmlichen Früchten hält.
Rainer Maria Rilke,
zwischen dem 2. und 5.2.1922,
und kurz vor dem 23.2.1922,
Chateau de Muzot
Das VIII. Sonett
Nur im Raum der Rühmung darf die Klage
gehn, die Nymphe des geweinten Quells,
wachend über unserm Niederschlage,
dass er klar sei an demselben Fels,
der die Tore trägt und die Altäre. -
Sieh, um ihre stillen Schultern früht
das Gefühl, dass sie die jüngste wäre
unter den Geschwistern im Gemüt.
Jubel weiß, und Sehnsucht ist geständig, -
nur die Klage lernt noch; mädchenhändig
zählt sie nächtelang das alte Schlimme.
Aber plötzlich, schräg und ungeübt,
hält sie doch ein Sternbild unsrer Stimme
in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt.
Rainer Maria Rilke,
zwischen dem 2. und 5.2.1922,
Chateau de Muzot
Das IX. Sonett
Nur wer die Leier schon hob
auch unter Schatten,
darf das unendliche Lob
ahnend erstatten.
Nur wer mit Toten vom Mohn
aß, von dem ihren,
wird nicht den leisesten Ton
wieder verlieren.
Mag auch die Spieglung im Teich
oft uns verschwimmen:
Wisse das Bild.
Erst in dem Doppelbereich
werden die Stimmen
ewig und mild.
Rainer Maria Rilke,
zwischen dem 2. und 5.2.1922,
Chateau de Muzot
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Wallis, Sierre, Schweiz, Château de Muzot. |
